piwik no script img

Archiv-Artikel

theater Blutleere Mischung aus Maskenball und Pathologie

Hans Christian Andersen war ein ängstlicher Mensch. Ein Neurotiker, der auf Reisen ein langes Seil dabei hatte, um sich im Notfall aus dem brennenden Hotelzimmer retten zu können. Ein Phobiker, neben dessen Bett grundsätzlich ein Zettel lag mit der Aufschrift: „Ich bin nur scheintot“ – für den Fall, dass man ihn lebendig begraben wollte.

Im Andersen-Jahr 2005 kommt die ängstliche Seite des Märchendichters als ein Stück Neue Musik auf die Bühne, Titel: „Ich bin nur scheintot“. Besetzung und Anspruch sind hochkarätig. Das Konzept stammt von Kirsten Dehlholm, künstlerische Leiterin der dänischen Performancegruppe Hotel Pro Forma, die Musik schrieb der Kölner Komponist Manos Tsangaris. Auf der Bühne zu sehen und zu hören sind SängerInnen des Danish National Choir. Nach der Kölner Uraufführung wird das musikalisch-szenische Experiment in Kopenhagen und auf der Biennale in Venedig zu erleben sein.

„Ich bin nur scheintot“ ist ein Stück, das viel Platz braucht. Über die ganze Breite der Halle Kalk reihen sich bemalte Paneele, deren bunte Farben und kindliche Motive an Märchen erinnern. Doch davor und dahinter breiten sich die Ängste aus, von denen der Dichter in seinen Reisenotizen und Tagebüchern spricht. Die die Nachtseite von Andersens Kreativität protokollieren, die zeigen, was in seinem Kopf los war, wenn die Phantasie mit dem durch immer wieder erlebte Zurückweisungen traumatisierten Märchenerzähler durchging.

Wie eine Mischung aus Maskenball und Pathologie sehen die SängerInnen in ihren grotesken weißen Kostümen aus – wie personifizierte Heimsuchungen, die singend und spielend Andersens Verlassenheit beschwören, seine Selbstzweifel, seine ewigen Zahnschmerzen, die Angst vor dem Grab der Mutter. Auf dänisch, deutsch und italienisch singen die Chormitglieder originale Andersen-Zeilen miteinander, durcheinander und gegeneinander, führen ihre Stimmen zu Tonclustern zusammen, die lang und getragen von Klage sprechen. Dabei winden sie sich wie gequälte Seelen und tragen zu Sphärenklängen Plastikvögel über die Bühne – Symbole für Andersens Reiseobsession.

Kreativ und ungewöhnlich ist das alles schon. Doch auch langatmig und effekthascherisch: Zu den innovativen Klängen von Manos Tsangaris inszeniert Kirsten Dehlholm eine Aufführung, in der zwanghaft immer etwas los ist, in der es heult, pufft und raucht und in der man sich trotzdem oft langweilt, weil jedes noch so flüchtige Traumbild zur minutenlangen Elegie ausgewalzt wird. Etwas blutleer wirkt das Ganze. Und irgendwie scheintot. HOLGER MÖHLMANN

„Ich bin nur scheintot“, Halle Kalk, Neuerburgstraße; 11.-15. 4., jeweils 20 Uhr, Telefon: 0221/ 221 28 400