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Archiv-Artikel

taz-serie (3): wie fahren wir 2010? Hilfe, ein Fahrgast

Macht aus Beförderungsfällen endlich Kunden!

Die Kunden des öffentlichen Verkehrs warten weder an Haltestellen noch auf Bahnsteigen. Sie sitzen in Rathäusern, Ministerien und zahllosen Gremien. Auf diesen Marktplätzen werden Umfang, Qualität und der Preis ausgehandelt. Alle – meist ohne unternehmerische Erfahrung – versuchen den öffentlichen Verkehr für sich zu instrumentalisieren. Er soll sozialpolitische Aufgaben übernehmen, der regionalen Wirtschaftspolitik aus der Klemme helfen, die Umwelt entlasten.

Die Branche will dabei politische Bonuspunkte sammeln, die Zuschüsse, Defizitübernahmen, Investitionsförderungen und andere Subventionen legitimieren. Allein im Nahverkehr finanzieren die Steuerzahler mit jährlich 16 Milliarden Euro zwei Drittel der Aufwendungen. In über sechs Jahrzehnten wurde ein Regelungs- und Finanzierungsdickicht von den Kommunen bis zur EU aufgebaut. Inzwischen ist klar: Das ist eine Falle.

Denn: Fahrgäste spielen in diesem System keine Rolle. Das Desaster des neuen Tarifsystems der Deutschen Bahn AG ist nur eine spektakuläre Folge dieses Konstruktionsfehlers. Nach dem kleinen Einmaleins jedes Kaufmanns werden Preise am Markt gemacht und nicht am grünen Tisch von Gremien. Der öffentliche Verkehr bedient nur noch 10 Prozent der Verkehrswünsche, das Auto ist seit Jahrzehnten der Gewinner dieser Fehlorientierung.

Die Kunden haben längst entschieden. Im deutschen Kundenmonitor rangiert der öffentliche Verkehr unter 42 Branchen auf dem letzten Platz. Die vorderen Plätze gehören der Automobilbranche. Als Behörde wird der öffentliche Verkehrsbetrieb wahrgenommen. Selbst kleine Tarifänderungen scheitern. Im schwergängigen Verfahren werden sie im Verkehrsverbund abgestimmt, dann politisch genehmigt. Mehreinnahmen durch Markterfolge bessern sowieso nicht das Unternehmenskonto auf, sie entlasten die Stadtkasse.

Aufgeschreckt von Subventionskürzungen und dem absehbaren Aufbrechen der lokalen Kartelle mutiert die Branche jetzt zu Mobilitätsdienstleistern. Doch ganz in ihrer Tradition einigte sie sich auf eine Norm zur „Definition, Festlegung von Leistungszielen und Messung der Servicequalität“. Kundenerwartungen legen Fachzirkel ohne Kundenkontakt fest, Ergebnisse aufwändiger Verkehrszählungen werden mit statistischen Methoden bewertet. Ein direkter Dialog wird nachhaltig vermieden, das wertvolle Alltagswissen der Kunden bleibt damit verborgen. Die Automobilindustrie macht das ganz anders, nutzt das Kundenwissen seit Jahrzehnten.

Und die Verbraucherrechte? Ganz im Geist der obrigkeitsstaatlich angeordneten und behördlich erbrachten Personenbeförderung haben die Beförderungsfälle keine: Eine Verordnung aus dem Jahr 1938, als den Militärtransporten Vorrang eingeräumt wurde, schloss den Anspruch auf Entschädigung bei Verspätung oder Ausfall aus. Erst 2002 wurde die Erstattung der Übernachtungskosten eingeführt, wenn die Eisenbahn die Verspätung verschuldet.

Daseinsvorsorge, das war das Zauberwort, das bisher eine ganze Branche rechtfertigte und alle öffentlichen Kassen öffnete. Wie dieser Begriff mit dem Ende des „Zeitalters der großen Erzählungen und der Bezahlbarkeit“ im öffentlichen Verkehr weiterentwickelt werden muss, ist in der politischen Arena bisher kein Thema. Konzeptionelle Stärke ist in der deutschen Verkehrspolitik noch immer Mangelware. Kunden wird es an den Haltestellen des öffentlichen Verkehrs daher auch künftig kaum geben. HERMANN BLÜMEL

Der Autor ist Berater für Umwelt- und Verkehrspolitik, Mitglied der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)Nächste Woche: Leihradeln reloaded – ÖPNV ohne Takte und Linien