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Archiv-Artikel

strafplanet erde: zwischen den themenkreisen von DIETRICH ZUR NEDDEN

Einen Kalender zurate zu ziehen, wäre ein Leichtes gewesen, aber aussichtslos. Ein Kalender hätte nichts gebracht, hätte die Aussage verweigert, ob wir zwischen den Jahren anwesend waren oder einfach so mitten im Wirtshaus. So hangelten wir uns durch die halbe Nacht. Stabilisierungsfaktoren waren Bierkrug und Weinglas, typisch! Aspekte des Fluchtverhaltens durchschnittlicher Alteuropäer im 21. Jahrhundert.

„Wehe du schreibst drüber“, meinte Herr Noll und ergänzte sanftmütiger, Kneipengespräche oder Eisenbahnfahrten solle man in Zeitungstexten „ruhich ma’ außen vor“ lassen, da diese beiden Themenkreise „mit ungefähr 99 Prozent“ überrepräsentiert seien.

Es komme doch nicht auf das Was und Wo an, sondern auf das Wie, wollte ich erwidern, aber er war längst weiter. Bis vor kurzem hatte er Weihnachtsbäume verkauft, jetzt trank er „Tannenzäpfle“. Er wolle heute genau so viele „Tannenzäpfle“ trinken, wie er Weihnachtsbäume verkauft habe, sagte er, das sei die Losung, das sei ein kosmologisch zu deutender Akt, symmetrische Harmonie, die dem Chaos trotzt, das müsse das Ziel sein.

Frau Buss griff Nolls vorletztes Wort auf. Wir wüssten doch, dass sie beinahe täglich durch den Stadtwald dauerlaufe. Aber ohne ramdösig machende Musik aus Ohrknöpfchen. Stattdessen denke sie sich Haiku-Verse aus, die inhaltlich der entspannenden Anstrengung gewidmet seien. „Haiku? Sind das diese dreizeiligen Gedichte japanischer Provenienz, die strikt fünf, sieben und fünf Silben haben dürfen?“, fragte Herr Stöckel, ein pädagogisch versierter Bekannter und stets bestrebt, für allgemeine Verständlichkeit zu sorgen. „Genau“, sagte Frau Buss und trug vor: „Nicht alle laufen / Und nicht alle laufen weg / Der Weg ist das Ziel.“ Sekundenkurzes Schweigen, danach Würdigungen wie „Hut ab!“ und „nicht übel“.

„Respekt“, meinte Herr Noll und orderte das nächste „Tannenzäpfle“. Ob das nicht im Badischen gebraut werde, fragte Herr Stöckel rhetorisch. Dort, genauer in Freiburg, sei er neulich auf der Reise nach Basel ausgestiegen, als ihm einfiel, dass der dortige Zweitligist eine halbe Stunde später zum Punktspiel gegen Saarbrücken antreten würde. Auf der Rückfahrt zum Bahnhof – der Gastgeber hatte 2:1 gewonnen – meldete sich in der prallvollen Straßenbahn ein Fan aus Saarbrücken zu Wort: „Ich hab verloren. Krieg ich ’n Sitzplatz?“ Das, sagte Herr Stöckel, sei einer der komischsten Appelle an die Humanität gewesen, die ihm im zur Neige gehenden Jahr zu Ohren gekommen seien.

Aha, Zeit für Reminiszenzen, fand Frau Brücher. Niemand von uns habe ja mit ihr zur Lesung Ulla Meineckes gehen wollen. Die Sängerin habe von Studioaufnahmen erzählt, dass sie, Meinecke, bei einem Song den allerersten Take trotz streng genommen vorhandener Unzulänglichkeiten grandios fand. Die Band wollte weiter probieren, weitere Takes aufnehmen. Da habe Meinecke nur gesagt: „Jungs fangen jetzt an zu basteln. Männer gehen mit mir essen.“

Wir tranken. Auf diese und die beiden anderen Beiträge, die weder in der Kneipe noch im ICE spielten. Und ich beschloss, Nolls Verbot zu ignorieren und das Zwischen in Zwischen-den-Jahren aufzuheben.