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Archiv-Artikel

strafplanet erde: onkel werners widerstandsgruppe von DIETRICH ZUR NEDDEN

Es handelt sich um kein Naturgesetz, aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung mag es erklären und als Menschenrecht wäre es brauchbar: In jeder Familie gibt es einen kauzigen Onkel oder eine schrullige Tante. Wenn möglich, beides. Schwererziehbar sind sie, wofür die minderjährige Verwandtschaft dankbar ist, insbesondere da sonst Familienfeste Beerdigungen gleichen, selbst wenn niemand zu Grabe getragen wird.

Einem Kapitel meiner demnächst erscheinenden Studie „Solo für Onkel“ wird zu entnehmen sein, dass nicht jeder dieser Sorte Onkel aus Amerika kommt und Dagobert, Sam oder lieber Bill heißt. Dass nicht jeder dieser Onkel Doktor von Beruf ist, ein Onkel Wanja nicht zwangsläufig Schauspieler und warum der große Onkel sich vom kleinen Onkel unterscheidet, versteht sich von selbst und wird trotzdem erklärt. Dass Jacques Tati in seinem Film „Mon Oncle“ einen Typus letztgültig porträtiert hat – auch das kommt zur Sprache.

Seinen Ursprung hat das Forschungsprojekt in einem Mittagessen, bei dem eine Buchstabennudelsuppe serviert wurde. Vor dem ersten alphabetisierten Mund voll entsann ich mich Onkel Werners. In den Ferien hatte ich ihn und Tante Annamaria besucht, es gab eine solche Suppe, und bevor Onkel Werner zu essen begann, fahndete er mit Hilfe der Löffelmuldenkante nach Buchstaben, um den Namen seiner Frau auf dem Tellerrand auszulegen. „Das macht er jedes Mal!“, sagte Tante Annamaria.

Die schüchterne Liebeserklärung und Buchstabenspielerei – die er im Laufe der Mahlzeit in Variationen fortsetzte – passte zu Onkel Werners etwas altmodischem, manchmal leider bemüht wirkendem Wortwitz, der an den seines Namensvetters Werner Finck erinnerte.

Onkel Werner war Postbeamter und hatte in der Fernvermittlung gearbeitet, später bei der Auskunft. Die Versetzung war auf eigenen Wunsch erfolgt, seine hohe Stimmlage und sein freundliches Wesen ließen den Vorgesetzten eine Ausnahme von der Regel machen, die Frauen bevorzugte. Das sollte er bereuen.

Denn Onkel Werner gründete eine Ein-Mann-Widerstandsgruppe. Ihn empörte die Geschichte der deutschen Buchstabiertafel und wie die ignoranten oder schlecht informierten Kunden sie benutzten. Die Nazis und ihnen willfährige Beamte hatten die Tafel 1934 geändert und in ihrem Wahn die jüdischen Namen gelöscht. Statt D wie David hieß es nun Dora, für J wie Jacob suchten sie Jot aus, für S wie Samuel musste es Siegfried sein und aus Z wie Zacharias wurde Zeppelin. S und Z hatten 1948 offiziell die früheren Bezeichnungen zurückbekommen, aber auch daran hielten sich die wenigsten. Verlangte jemand von Onkel Werner etwa die Nummer eines „Nedden“ und buchstabierte Nordpol-Emil-Dora-Dora-Emil-Nordpol, korrigierte er sofort und erzählte, warum. Wenn sich der Gesprächsteilnehmer das verbat oder nicht verstand, wurde Werner schnell aggressiv und laut. Das sei doch wohl das Mindeste, brüllte er, dass man aus Abscheu gegen die Nazis und ihren Rassismus die ursprünglichen Namen verwende! Nach mehreren Abmahnungen wurde er zwangsversetzt. Viele hielten Onkel Werner für einen Spinner. Ich mochte ihn sehr.