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Archiv-Artikel

stefan kuzmany über Alltag Die neue Spiegel-Affäre

Dinge verschwinden, einfach so, jeden Tag, überall auf der Welt. Ein Mysterium

Mein Bruder ist ein guter Mensch. Wenn auch nicht ganz uneigennützig.

„Ich habe ihn nicht. Ich hab dir den Spiegel gestern Abend in dein Zimmer gelegt, damit du mich nicht aufweckst, wenn du ihn bei mir suchst.“

„Sehr nett. Nur, wo ist er jetzt?“

Jede Woche dieselbe Diskussion, früher, als ich noch bei der Familie gelebt habe. Immer wieder: Fünf Personen, ein Spiegel. Wer liest ihn zuerst? Wo ist das verdammte Ding gerade? Auf dem Klo? Unter einem Bett? Zwischen Sofakissen? Und jetzt, beim Besuch, dasselbe Theater. Der Spiegel ist verschwunden.

Mein Bruder insistierte. Hier, genau hier habe er ihn hergelegt. Wenn ich ihn nicht weggenommen hätte, dann müsste er immer noch genau so da liegen.

„Ich habe ihn nicht weggenommen.“

„Aber sicher.“

Natürlich glaubte er mir nicht. Seit Jahrzehnten geht das so. Wenn etwas fehlt, bin automatisch ich der Hauptverdächtige in der Familie. Ich kann mir das nicht erklären. Wo ist der Regenschirm? Sicher hat Stefan ihn. Wo ist die Bohrmaschine? Die hat wohl Stefan. Wo ist mein linker Schuh? Natürlich hat …

Ich kann mir dieses Misstrauen nicht erklären, schließlich finde ich doch immer alles sofort wieder. Nach einiger Zeit. Aber dann sicher. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Leute, die oberflächlich betrachtet in Unordnung leben, eigentlich nur über ein sehr komplexes, sehr persönliches Ordnungssystem verfügen. Sie denken in Zeiträumen und in Schichten. Zum Beispiel so: Als ich mir diese wichtige Telefonnummer des Ministers aufgeschrieben habe, hatte ich doch gerade vorher in der Schopenhauer-Biografie geblättert. Und das war doch zu der Zeit, als im Briefkasten dieser Prospekt des Pizzalieferservice lag.

Lugt hier nicht der bunte Prospekt aus dem Stapel auf meinem Schreibtisch heraus? Ja! Und siehe: Gleich darunter die Schopenhauer-Biografie. Und darin: die Telefonnummer. Na also. Alles nur eine Frage der richtigen Schichtung, Erinnerung und Vernetzung. Wie langweilig dagegen Menschen, die alles in beschriftete Klarsichthüllen stecken. Was tun die denn, wenn sie mal eine Klarsichthülle verlieren? Oder wenn sich der kleine beschriftete Aufkleber von der Klarsichthülle löst? Das müssen schreckliche Momente sein.

In der aktuellen Spiegel-Affäre half mir mein System allerdings wenig. Schließlich hatte ich das Heft tatsächlich nicht angerührt. Sonst wüsste ich doch genau, wo es sich befindet.

Also suchten wir. In meinem Zimmer. Unter dem Sofa. Unter dem Bett. Unter dem Schreibtisch. In seinem Zimmer. Im Wohnzimmer. Auf den Toiletten. In der Küche. Im Garten. Im Keller. Kein Spiegel weit und breit. Darüber wurde es Abend. Ich beschloss, mich erst mal mit einigen alten Freunden auf ein Bier zu treffen.

Ein sehr unerfreulicher Abend. Zuerst unterhielten sich die anderen ständig über irgendwelche Themen, von denen sie im Spiegel gelesen hatten. Dann erzählten sie sich gegenseitig die lustigsten Hohlspiegel-Sätze. Schließlich meinte Markus, es sei ja bekannt, dass auf der Personalienseite immer eine mindestens halb nackte Frau zu sehen sei, aber diesmal seien die beim Spiegel ja doch ein wenig zu weit gegangen. „Ein wenig?“, höhnte Timo. Alle lachten wissend. Ich nicht.

Am Schluss verweigerte mir Markus auch noch, meine Zeche zu übernehmen, obwohl er dazu eigentlich verpflichtet gewesen wäre, da er am Abend zuvor einen nicht unerheblichen Betrag beim Schafskopfen an mich verloren hatte. „Ich kann nicht zahlen. Ich habe meine Geldbörse verlegt. Weiß auch nicht, wo die ist“, behauptete er scheinheilig. So ein Lügner. Der verliert nur Schafkopfsoli, aber sonst nichts. Jetzt musste ich ihn auch noch freihalten.

Wieder daheim kam ich in mein Zimmer. Und da lag er: der Spiegel. Auf dem Sofa. Ich war hocherfreut, vor allem, weil ich ja nun erfahren würde, wo er gewesen war. Ich ging rüber und weckte meinen Bruder. Schlaftrunken sah er mich an.

„Der Spiegel ist wieder da!“, rief ich euphorisch.

„Ich weiß“, sagte er. „Lass mich schlafen jetzt.“

„Ja ja. Erst sag mir: Wo war der Spiegel?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wie jetzt?“

„Also gut.“ Mein Bruder richtete sich auf, stützte sich mit den Ellenbogen auf der Matratze ab und erzählte. Er habe noch Besuch gehabt von seinem alten Kumpel Marc. Man habe gelacht und die eine oder andere Limo getrunken. Dann sei mein Bruder auf die Toilette gegangen.

„Wie ich wiederkomme, sitzt da Marc und liest im Spiegel.“

„Und – woher hatte er ihn?“

„Das habe ich ihn auch gefragt.“

„Und?“

„Der sei da gelegen, hat er gesagt. Der sei da einfach gelegen, die ganze Zeit schon.“

Spiegel-Leser wissen überhaupt nicht mehr.

Fragen zur Spiegel-Affäre?kolumne@taz.de