: stadt der abhanden gekommenen kinder
Oft wiederholt, öfter verpasst, immer gerne gesehen: „Stadt der verlorenen Kinder“ vom französischen Regie-Tandem Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro. Die hatten zuvor mit der opulenten Kannibalenkomödie „Delicatessen“ die Herzen optisch verwöhnter Kinogänger erobert – die französisch-spanisch-deutsche Koproduktion „Stadt der verlorenen Kinder“ sollte 1994 sozusagen ihre Doktorarbeit werden: Ein Wissenschaftler mit dem sprechenden Namen Krank lebt auf einer bizarr umgebauten Bohrinsel. Sein Problem: Er altert allzu rasch, weil er nicht träumen kann. Daher entführt er Kinder aus einer nahe gelegenen, surreal heruntergekommenen Küstenstadt, um deren Träume anzuzapfen. Neben einem Gehirn im Aquarium, neben geklonten Mutanten, einer Gemeinde von Zyklopen, einer umtriebigen Kinder-Guerilla, siameschen Zwillingen und bösartigen Zwergen beherrschen obskure Maschinen aus Blech und Holz die düstere Szenerie. Als schließlich auch der kleine Denrée verschwindet, macht sich dessen leicht beschränkter Bruder One (Ron Perlman) mit der neunjährigen femme fatale Miette auf die Suche. Logisch, dass es hier statt einer Logik mehr Spezialeffekte gibt als jemals zuvor in einem französischen Film. Und mehr Zitate: „Stadt der verlorenen Kinder“ selbst wirkt wie ein aus „Blade Runner“ und „Brazil“ gegossener Albtraum, arrangiert von Fellini und beeinflusst von Jules Verne. Traumhaft auch die Mitstreiter von Jeunet & Caro: Kameramann Darius Khondji erntete später Meriten für seine Arbeit bei David Finchers Thriller „Sieben“, die beschwörenden Klänge stammen von Angelo Badalamenti („Blue Velvet“, „Twin Peaks“), und die Kostüme schneiderte allesamt Jean-Paul Gaultier („Das fünfte Element“). Kritikern wie Publikum freilich war dieses visuelle Abenteuer too much. Walt Disney jedenfalls hätte ein buntes, familientaugliches, eben aseptisch-amerikanisches Spektakel aus dem Plot gezimmert. Die üppigen Bilder, hieß es, lenkten von einer Geschichte ab, die es nicht gibt – was man erst merkt, wenn’s vorbei ist. Los geht’s jedenfalls um 22.25 Uhr auf 3sat. Ohne Werbeblöcke. Wie die Träume danach.
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