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Archiv-Artikel

spieltriebe (6) Kitsch-klangversüßte Überdurchschnittlichkeit

Das Theater Osnabrück zeigt zum Spielzeitauftakt auf dem Festival „Spieltriebe“ vom 16. bis 18. September insgesamt zwölf Ur- und Erstaufführungen. Die taz nord stellt einige der jungen DramatikerInnen und ihre Stücke vor. Heute: Gert Jonke „Chorphantasie“

Zugegeben, die berühmtere Chorfantasie hat Beethoven geschrieben. Bei deren Uraufführung 1808 vermasselten die Orchestermusiker das große Finale. Nichts im Vergleich zu Gert Jonkes „Chorphantasie“, die noch auf ihre Uraufführung in Osnabrück wartet, denn dort kommen die Musiker erst gar nicht zur Aufführung.

Der Dirigent – die Hauptrolle des Stücks – beginnt damit, das Publikum zu dirigieren. Niemand spielt ein Instrument, das Publikum wird zu seinem Horchorchester. Die Musik entsteht im Kopf: Durch konzentriertes Ein- und Aushorchen, eine quasi-meditative Tätigkeit, die der Dirigent anleitet. So erklingt eine sprachgewaltige Symphonie aus Worten. In drei Teilen nach formalem Vorbild der Sätze einer Symphonie komponiert. Übersteigertes Ziel des Dirigenten ist es, die „Seele der Symphonie zum ersten Mal auf einem Tonträger festzuhalten“. Eine Karikatur romantischer Musikphilosophie.

Wenn denn nur die richtigen Musiker endlich kämen. Der Anspruch des Dirigenten wird nämlich gleich mehrfach ironisch gebrochen. Erst streiken die Musiker, weil sie kein Gehalt bekommen. Dann ist der Tonmeister spurlos verschwunden. Außerdem ist die Stadt und mit ihr der Konzertsaal sowieso vom Jahrhunderthochwasser bedroht. Hausmeister Mairitsch und sein Sohn Rudolf Streichquartett treten clownesk als die Gegenpole des modernen Musikgeschehens auf. Hier Stumpfsinn, dort verbohrtes Kopfmusikertum.

„Die kitsch-klangversüßte Armseligkeit der allgemeinen Unterdurchschnittlichkeit“, verzweifelt der Dirigent, lasse den Hörer heute „nicht einmal die Jämmerlichkeit seiner Durchschnittlichkeit“ mehr wahrnehmen. Ein Bildungslamento nach echt bernhardscher Manier also. Man fragt sich, ob das wirklich alles so schlimm ist. Der letzte Choreinsatz beendet das Stück im Chaos. Der Konzertsaal säuft ab, der Dirigent entkommt im Helikopter.

Das Stück erhielt gerade den „Nestroy“. Das ist aber nur eine von vielen Auszeichnungen – darunter auch der Große Österreichische Staatspreis für Literatur –, die der 1946 in Klagenfurt geborene Gert Jonke schon gewonnen hat. Immer wieder orientiert sich der ausgebildete Pianist bei seinen Werken an Musikern. Mit der „Chorphantasie“ persifliert er seinen Vorgänger Beethoven. Lässt dessen Finale den Verbrüderungsgedanken der Neunten vorausahnen, schließt Jonkes Schlusschor mit der grotesken Vision, dass „ein einziger Schrei sich in die Unendlichkeit fortsetzt“. Denis Bühler