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Archiv-Artikel

semlers kleine abkürzungskunde Der Strich macht’s

Joschka Fischer redet von der PDS/ML und spielt damit auf linke, dogmatische Gruppen in den 70ern an. Sehr altherrenwitzig!

Ratlosigkeit breitet sich insbesondere bei taz-Lesern der Kategorie U 30 angesichts einer Abkürzung aus, die Joschka Fischer jüngst zur Ironisierung der neuen deutschen Linkspartei verwandt hat: PDS/ML.

Was zum Teufel bedeutet bei PDS/ML das „ML“? Gut, „ML“ soll für „mit Lafontaine“ stehen, heißt aber gleichzeitig „marxistisch-leninistisch“. Aber was ist daran komisch? Obwohl es nach Sigmund Freud nichts Öderes gibt, als einen Witz zu erklären, soll für den Leserservice darauf hingewiesen werden, dass das Komische im Schrägstrich zwischen PDS und ML zu suchen ist.

Es war dieser Schrägstrich, mittels dessen sich in der erste Hälfte der 60er in einer Reihe kommunistischer Parteien Gruppen abspalteten, weil sie die Theorie und Praxis der sowjetischen Mutterpartei und der ihr folgenden Parteiführungen als „revisionistisch“, als unvereinbar mit der vormals gemeinsamen Theorie, eben dem Marxismus-Leninismus verwarfen. Mit einiger Verspätung erreichte dieser Prozess auch die deutsche Kommunistische Partei, geriet allerdings sofort in den Strudel der Studentenbewegung und damit der orientierungshungrigen radikalen Linken. Die MLer der späten 60er- und frühen 70er-Jahre kamen demzufolge ganz überwiegend nicht aus dem Umkreis der alten kommunistischen Arbeiterbewegung. Sie versuchten sich durch rigide Disziplin und Glaubensstrenge aus der antiautoritären Libertinage herauszuziehen. Da jede der Gruppen die Avantgarde der künftigen revolutionären Bewegung bilden wollte, entstand binnen kurzem eine Vielzahl verschiedener ML-Organisationen, mit und auch ohne Schrägstrich.

Ehe aber das ML-Kürzel sich in der Öffentlichkeit festsetzen konnte, wurden, inspiriert vom Verfassungsschutz, die größeren ML-Gruppen als „K-Gruppen“, „K“ für kommunistisch, bezeichnet. Dies wiederum passte der moskautreuen DKP nicht, die von den MLern als „Revis“ (für revisionistisch) verspottet wurde. Die DKP-Intelligenzler erfanden den Allgemeinbegriff der „Chaoten“, der ebenfalls weite Verwendung fand. Als sich die „K-Frage“ in ihrer ursprünglichen Version in den 80er-Jahren erledigt hatte, schwand auch die Erinnerung an das Schrägstrich-ML, so dass es sich bei Joschka Fischers Charakterisierung um einen typischen Alt-Herren-Witz handelt.

CHRISTIAN SEMLER