schwerpunkt griechenland (4): Ersti Sotiropoulos: das Leben als Intensivstation
Das Gehirn eine leuchtende Kugel
Ersi Sotiropoulos schreckt vor nichts zurück. Sie arbeitet sich ab an sexueller Perversion, an Alptraumszenarien und Todesdarstellungen, die Härten führt sie grell vor Augen. Sie kann niemanden schonen. Aber sie kann auch niemandem weh tun. Sie hat einen zart-bitteren Geschmack auf der Zunge. Mit Kreuzstich näht sie Todesnähe, Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit zusammen: das Leben als Intensivstation.
So spielt ihrer jüngster Roman „Bittere Orangen“ im Krankenhaus. Hier liegt die todgeweihte Lia mit einem absonderlichen Virus, durch den sie sich selbst aufzehrt. Aber Lia tut sich im Fieber, das sie wie einen Rausch erlebt, nicht Leid. Sie „amüsiert sich schrecklich“. Dabei unterhält sie eine bizarre Geschwisterliebe zu ihrem Bruder Sid. Sie sind in einer Art possenhafter Schicksalskonstellation aneinander gekettet, wobei Lia „den Mechanismus der Farce zündet“. Sid soll Rache üben an Sotiris, Lias Krankenpfleger, mit dem sie ein lebensgefährliches Spiel spielt. Sotiris will sich paaren, weiß aber nicht, wie. Ihm fallen nur zwei Strategien ein, sich einer Frau zu nähern: heiraten und – wenn sie nicht will – vergewaltigen. Nina, die heimliche Protagonistin, die Lia so sehr gleicht, sitzt mit ihrer älteren Schwester am Hafen und sieht den Sonnenuntergang. Angesichts der Landschaftsszenerie erlebt sie eine Art ekstatischen Zustand, ihr Gehirn verwandelt sich in eine leuchtende Kugel. Die Ältere bevorzugt es, gelangweilt in einer Zeitschrift zu blättern, aber die Kleine ist sicher: „So was hast du noch nicht gesehen.“
In ihren krankhaften Erregungszuständen gleicht sie den anderen Protagonisten. Gestörte in den Augen ihrer Eltern, Verstörte für den Leser, gehen sie ins innere Exil: den Autismus, die Schizophrenie, das Schreiben. Somnambule, die einen Augenaufschlag lang zu Hellsehern werden. Ihre Vorherbestimmung scheint es zu sein, aneinander vorbei zu gehen. Es kommt zu Berührungen, die aber erschüttern. Die Zärtlichkeit, die dann ausbricht, ist beklommen und heftig: „Reiß mich mit der Wurzel aus.“ Aber nicht alles gehorcht der Logik der Auflösung. Jeder geht seinen Weg allein, alle stürzen in Richtung auf den Tod und reißen sich gegenseitig mit in die Tiefe, aber darin halten sie sich gegenseitig. Es gibt keine Sicherheit, deshalb suchen sie die Gefahr. Als sich Lia ganz ihrer Sterblichkeit ausgeliefert sieht, sagt sie für sich: „Jetzt bin ich unverwundbar.“
Aber die kleine Nina – ihrer Autorin ähnlich – ist lebendig, und mehr sogar als die, die sie umgeben. Das unschuldige und welterfahrene Kind, das keine Gesprächspartner findet als sich selbst, erklärt sich in einem Singsang wie von Björk fließend zur Heldin ihres eigenen Lebens: „Alle anderen sind Idioten und Scheintote, weil sie das nicht sehen können. Ein wenig nach rechts, ein wenig nach links. Ich kann hingehen, wo es mir gefällt. Ich kann schreiben, was mir gefällt. Ich halte ein wunderbares Gleichgewicht und gehe weiter.“
MANUEL GOGOS
Ersi Sotiropoulos „Bittere Orangen“. Aus dem Griechischen von Doris Wille, dtv 2001
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