schim- an- eck :
Der lange Weg zu Ernesto
Ist schon einige Zeit her, als ich von Asunción in Paraguay nach Buenos Aires fuhr. Es war ein gruelling busride: rechts die Pampa, links der Paraná, links der Paraná, rechts die Pampa und alles flat, flat, flat. Gegen Sundown näherten wir uns Rosario. Rosario, Rosario... versuchte ich mich zu erinnern, war das nicht, ist das nicht...Ich griff zu meinem South American Tourist Handbook, ob da was vermerkt war. Außer ein paar lumpigen Sätzen nix Interessantes. Die Verfasser setzten wohl darauf, dass der Leser die wirklich interessanten Facts gefällig selbst herauszufinden habe. Schließlich wolle man ihm ja nicht die Vorfreude verderben. Da fiel‘s mir wieder ein. He, Hombre! Rosario ist doch die Geburtsstadt unseres Ernesto, Zentralbankpräsident, Industrieminister, Schriftssteller und Revoluzzer. Ich schnappte mein Gepäck und stürmte zum Pilota nach vorn.
In der Nähe der Busstation war schnell ein Hostal gefunden, von wo ich gleich zum großen Erkundungsgang loszog. Ich fragte Schulkinder, Senoras und Polizisten, erkundigte mich bei Banken und Museen und klingelte schließlich den an Mumps erkranken Pfarrer der deutschen, evangelischen Gemeindeans Portal. Aber nada, nothing, nix. Ja, hatte denn keiner der vielen hunderttausend Einwohner mitgekriegt, dass die Stadt einen weltbekannten sohn bekommen hatte und zwar schon seit dreißig Jahren. Mittlerweile war es fast dreiundzwanzig Uhr geworden. Feierabend. An der nächsten Fast Food-Bude orderte ich einen Satz Pampasknacker, atzte sie vor lauter Frust laut schmatzend weg, kippte eine Cola nach und latschte zum Hostal zurück.
Als ich mein Zimmer betrat, dachte ich zuerst, ich hätte die falsche Klinke in der Hand. Die ganze Bude bordete über von Schwärmen gräulich-gelber Motten – oder was das war, die überall hingen, flogen, hüpften und rumtorkelten. Ich versuchte ihnen mit einem Handtuch Herr zu werden. Aber durch das Rumgewirbele wurden nur immer neue Biester durch das offene Fenster angelockt. Ich knallte die Fensterläden zu und stürmte zum Portier herunter. Ob er mir vielleicht all die Motten auf‘s Zimmer gejagd hätte, wollte ich wissen. No, no Senor, antwortete er verschämt grinsend, das wären Pampasmotten, die kämen immer in den heißen Monaten in solchen Scharen an, wären aber völig ungefährlich...
Das war ja gut zu wissen. Später baute ich mir aus meinem Bett eine hermetisch verschließbare Lakenburg und beschloss, die Nacht klaglos wie ein echter Revoluzzer zu verbringen. Noch lange vor dem Einschlafen beschäftigten mich meine neuen Zimmergenossen, die sich sehr auffällig verhielten. Ob sie damit andeuten wollten, dass sie etwas Bestimmtes vorhatten? Auf jeden Fall aber wirkten sie stark politisch motiviert.
Am Morgen nahm ich den ersten Bus nach Buenos Aires und freute mich schon, Klamotten und Gepäckstücke in der reinen Süsatlantikluft mottenfrei zu schütteln. Aber die Biester waren raffiniert. Die kannten jede Kante und Ritze. Selbst Monate später, als ich schon längst wieder in Gelsenkirchen zurück war, stiegen immer wieder welche auf, ohne dass ich rauskriegte, wo sie sich dananch versteckten.
Und nun, fast zweieinhalb Jahre später, als ich eines Morgens noch schön kuschelig in der Falle lag und an der Wand wieder meinen einhundertvierzig Jahre alten Wolkenband-Beschir beäugte, bemerkte ich zwischen den Wolkenbändern auffälliges Gekribbele und Gekrussele. Ja, was war das denn! Ich sprang auf und checkte. Dann traf mich der Ekel wie ein Blitz. Mein glorioser Naturfarbenteppich war zu einem Live-Buffet hunderter putzlebendeiger gräulich gelber Rosario- Motten verkommen. Ja, was hatte ich denn verbrochen? Warum wurde ich verfolgt? Na schön, der Teppich war eine Kinderarbeit. Aber das hatte ich ja selbst erst viel später erfahren.
Der Tag war natürlich gelaufen. Ich beschloss nach alter Missionsschülersitte Einkehr mit anschließendem Kinobesuch zu halten. In der Zeitung bot sich auch gerade das perfekte Ergänzungsprogramm an: Die Reise des jungen Che, just released. Ich war sicher, dass ich dort eine plausible Erklärung für all die Mottenattacken erhalten würde und vor allem, ob der Commandante dahinter steckte. Und wenn, was er mir damit sagen wollte. Dann holte ich die Pumpenzange, riss den Teppich mit einem Ruck von den Wandhaken, knautschte ihn zum Paket und versenkte ihn tief, tief in der leuchtend gelben Abfalltonne.
JÜRGEN SCHIMANEK