robin alexander über Schicksal : Tigerenten für den Frieden
Der Ex-Zivi Boris ist gegen den Krieg, irgendwie und zumindest meistens
Boris will ein weißes Bettlaken aus dem Fenster hängen, wenn der Irakkrieg beginnt. Er unterzeichnet auch angebliche UN-Petitionen an George W. Bush, die im Internet kursieren. Ja, er hat sich sogar Konstantin Wecker auf der Friedensdemonstration „angetan“. All das hat Boris eigentlich nicht nötig. Denn er weiß auch so, dass er ein besserer Mensch ist. Er hat das sogar schriftlich. „Sehr geehrter Herr K., auf ihren Antrag vom 21. 11. 93, festzustellen, dass Sie zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe berechtigt sind, ergeht folgender Bescheid: Sie sind berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Dieser Bescheid ist unanfechtbar.“
Die ausführlichste Selbstauskunft, die die Bundesrepublik Deutschland je von ihrem Bürger Boris K. verlangte, war ein zweiseitiges Schreiben über sein Gewissen. Und Boris hat sicherheitshalber ganze Salven von Gewissensgründen abgefeuert: die schlimmen Kriegserlebnisse seiner Großväter. Die christliche Lehre von der hinzuhaltenden Wange. Die Gedichte Erich Frieds, die ihm seine Mutter vorlas, und die Dramen Wolfgang Borcherts aus dem Deutschunterricht. Die Vietnamfilme. Und, und, und. Alles amtlich anerkannt: Gerade 18 geworden und schon per Brief und Siegel ein guter Mensch.
Noch lieber als eine grundgute Gesinnung hätte sich Boris allerdings vom Staat einen gebrechlichen Körper bescheinigen lassen. Aber Boris hatte bei der Musterung nur eine Hausstauballergie vorzuweisen – und die Verweigerung vorsichtshalber schon in der Tasche. Statt Krankenhaus oder Behindertenbetreuung suchte Boris sich für seinen Zivildienst einen Schreibtischjob. Auch unter Kriegdienstverweigerern gibt es Frontschweine und Etappenhasen.
Und sogar Kasernierung. Für einen Lehrgang wurde Boris zusammen mit 80 anderen Zivis vier Wochen lang auf einem Berg in Niedersachsen zusammengepfercht. Auf der Zugfahrt dorthin lernte ich ihn kennen. Sonst waren nur Bundeswehrsoldaten im Waggon. Ich habe mich einfach neben den einzigen Menschen ohne Bierdose oder Schnäuzer gesetzt – und der hatte das gleiche Ziel. Seitdem sind wir Freunde. Der Zivi-Lehrgang fand in einer ehemaligen Kaserne statt. Dort wurden nun junge Männer wie Boris zu Staatsbürgern. Morgens gab es politische Bildung: Wie funktioniert der Staat, den zu verteidigen Sie ablehnen? Nachmittags wurde Praktisches vermittelt. Hier lernten vor allem diejenigen etwas, die direkt „am Mensch“ eingesetzt waren – wir also nicht. Die ehemalige Kaserne war leicht umgerüstet worden – auch für die Freizeitgestaltung der Zivis. Der Bestand des Videoraums war ausgetauscht worden, statt Stallone-Filmen gab es die „Doors“ zu sehen. In der Kantine konnte man vegetarische Gerichte bestellen. Es gab eine sehr gut sortierte Ausleihe von Gesellschaftsspielen, und in der Holzwerkstatt erklärte ein Meister, wie man Janoschs Tigerenten selber sägt. Wie Boris verhält sich die schlauere Hälfte der jungen Männer in diesem Land. Gefragt, ob sie einen Unteroffizier zum Chef möchten oder einen Menschen, entscheiden sie sich für Letzteres. Das ist nicht gut oder edel, sondern vernünftig. Boris hat sich im Zivildienst bei seiner Arbeitsstelle mehr oder weniger nützlich gemacht, andere lernen von Staats wegen pflegen, betreuen, helfen – und alle dürfen ein Jahr länger bei Mutti wohnen.
Solange er nichts persönlich damit zu tun bekommt, hat Boris zum Militär ein ganz entspanntes Verhältnis. Politisch ist Boris schwer fortschrittlich – und viel zu pragmatisch, um den Einsatz von Militär prinzipiell abzulehnen. Explizit für Krieg war er nie, aber schon dafür, die Zivilgesellschaft in Serbien per B-52-Bomber einzuführen. Und er fand auch nichts dabei, die Frauenbefreiung in Afghanistan gemeinsam mit General Dostum zu erkämpfen. Boris’ Haltung ist die Haltung einer Generation von staatlich geprüften Pazifisten mit Tigerenten-Bewusstsein: ganz vorn an der Diskursfront. Krieg wird akzeptabler, je ferner er Boris ist. Dabei geht es nicht darum, dass der Balkan näher liegt als das Zweistromland, sondern um soziale Distanz. In Ländern mit Berufsarmeen dienen Leute, die ohne Armee nicht an ein geregeltes Einkommen oder Aufstiegschancen kämen. Bei uns ist noch die Kriegsdienstverweigerung nötig, damit Boris mit seinem Herkunfts-, Bildungs- und Chancenvorsprung kein Soldat werden muss. Der Aufsatz über das eigene Gewissen ist ihm als Gymnasiasten leicht gefallen, im Zivildienst traf er nur auf ebensolche.
Wenn aber der Fall eintritt, dass der erwartete Gewinn an Demoratie und Freihandel eher an die amerikanischen Freunde fällt, nimmt Boris eben den emotionalen Mehrwert mit – und hängt Bettlaken und Gesinnung aus dem Fenster. Manchmal denke ich, damals im Zug hätte ich mich doch neben einen Schnäuzer mit Dosenbier setzen sollen.
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