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robin alexander über SchicksalSieh die Zeichen an der Wand

Ein christliches Artefakt in der Wohnung strapaziert die Geduld der Liebsten und irritiert selbst gute Freunde

Immer zwischen Nachtisch und Schnaps kommen die Fragen. Dann glauben Gäste, die wir zum Essen geladen haben, ein ausreichendes Maß an Vertrautheit sei erreicht, um zu fragen, was sie bewegt, seit sie unser hohes Zimmer betreten haben. Manche zeigen mit dem Finger darauf und sagen einfach: „Was soll das denn?“ Andere gestehen ihre Irritation freimütig: „Ist euch das nicht irgendwie peinlich?“ Bekannte, die sich im Besitz eines gewissen Überblicks über die Binnenstruktur unserer Beziehung wähnen, warten, bis ich ins Bad gehe oder etwas aus der Küche hole, und wenden sich dann mitfühlend an meine Freundin: Ja, beim Zusammenwohnen mache man schon schmerzhafte Kompromisse.

Das Objekt des Anstoßes hängt an der Wand. An meinen Wänden hing schon viel Unfug. Einmal teilte ich eine Wohnung mit einem Iron-Maiden-Anhänger, der in unserer Küche ein Tourplakat dieser Band angebracht hatte: Es zeigte auf riesigen drei mal zwei Metern, wie eine vor Schmerzen schreiende Frau in einer apokalyptischen Landschaft von einem hässlichen Roboter vergewaltigt wird. Über das Poster hat sich nie jemand beschwert.

Denn Metal-Ästhetik aus den frühen Neunzigern ist nichts gegen das, was jetzt bei uns über der Tür hängt. Meine Schwester hat es mir zum Einzug mitgebracht; es hing im Kinderzimmer, das wir jahrelang teilten. Es ist zwanzig Zentimeter hoch und zehn breit, an zwei dünnen Holzbalken hängt eine recht anspruchslose Figur, die einen leidenden Mann darstellt. Ein Kreuz. Genauer: ein Kruzifix. Scheinbar die größte Provokation, die man seinen Mitmenschen bieten kann. Hinge dort ein Porträt des geliebten Führers, der Sonne des nordkoreanischen Volkes, Kim Jong Il, die Empörung wäre nicht größer: Wer in Deutschland ein Artefakt mit christlichem Hintergrund in seiner Wohnung hat, muss sich als bayerischer Gebirgsjäger, Opus-Dei-Faschist und alleiniger Verursacher von Überbevölkerung und Aids in der Dritten Welt beschimpfen lassen. Damit komme ich ganz gut klar.

Schlimmer wird es erst, wenn Gäste oder gar Freunde verlangen, ich müsste zum Kreuz an der Wand auch noch ein passendes Weltbild präsentieren. Womöglich noch ein intaktes. Aber ich kann weder mit regelmäßigem Kirchgang dienen noch mit Damaskus-Erlebnissen oder einem Leben voller innerer Freude und Zufriedenheit. Ich weiß auch nicht wirklich, ob Beten mehr hilft als Trinken. Aber ich kann mich erinnern, wie es sich anfühlt, wenn du merkst, dass du etwas getan hast, dass dir selbst so ein Nagel durch die Hand geschlagen gehört. Das können dann wieder erstaunlich viele Leute nachvollziehen, die nicht unter Verdacht stehen, gläubig zu sein.

Mit der Religiosität verhält es sich in dieser Gesellschaft genau wie mit der sozialen Sicherheit und dem politischen Bewusstsein: Eigentlich fehlt sie an allen Ecken und Enden, aber die sie haben, haben zu viel davon. Vor ein paar Wochen stieg in unserer Wohnung ein Bekannter eines Bekannten ab, den ich besser zu kennen dachte. Dieser Gast, anfangs höflich und zurückhaltend, ließ – kaum wurde er des in Rede stehenden Wandschmucks ansichtig – hemmungslos alle Distanz fallen und wurde unangenehm vertraulich. Der ganze Mann ein einziges Augenzwinkern: Wir sind vom gleichen Stamm, erleuchtet in gottloser Welt: Wir sind etwas Besseres. Ich schaltete nicht schnell genug, hätte vielleicht bei Teufels Großmutter fluchen sollen oder rasch drei Finger zum Satanistengruß spreizen.

Zu spät: An meinem Tisch saß einer der Nad Flanders dieser Welt und verbrüderte sich hemmungslos mit meinem armen Fleisch. Mit Blick aufs Kreuz berichtete er mir wortreich von seinem „Engagement“, von „kleinen Schritten in richtige Richtungen“ und von seiner Freundin „mit Interesse für Judaika“. Seine Rede war „irgendwie“ und „ein Stück weit“, er trank erschreckend maßvoll, ohne dabei seinen aggressiven Optimismus zu verlieren. Was der Spott meiner Freunde und die strapazierte Geduld meiner Liebsten nicht geschafft hatten, geschah nach diesem schlimmen Abend: Ich zweifelte, ob es wirklich klug war, ein Kruzifix über die Tür zu nageln. Für alle Fälle sollte ich vielleicht noch ein Poster von Iron Maiden daneben hängen.

Fragen zum Schicksal?kolumne@taz.de

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