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"So nicht!"-betr.: "Die Deutschen fürchten um ihren blauen Lappen", Interview mit Niedersachsens grünem Europa-Minister Jürgen Trittin, taz vom 29.4.92

Betr.: „Die Deutschen fürchten um ihren blauen Lappen“, Interview mit Niedersachsens grünem Europa-Minister Jürgen Trittin, taz vom 29.4.92

Grüne verlieren sich zur Zeit zu schnell in Details künftiger Europa- Konstruktionen, anstatt die breite und berechtigte Kritik in der Bevölkerung am bereits vor der Tür stehenden EG-Binnenmarkt und an Grundtendenzen der weiteren EG- Planung aufzunehmen.

So freut sich Trittin über theoretische Vorteile einer EG- (es wäre eine West-EG-)Bürgschaft, als würde dies, gemessen an den anderen handfesteren Merkmalen der EG, ein grünes Schwerpunktziel erfüllen (es war glücklicherweise nie eines), dem vieles andere geopfert werden könnte; und das auch noch, ohne Nachteile der zollfreien und offenen Grenzen für Ziele grüner Wirtschafts- und Sozialpolitik überhaupt zu reflektieren.

Als Gründungsgrüner aus der Bürgerinitiativenbewegung — auch heute noch bei dieser geblieben — kann ich das Hauptziel der grün-ökologischen Bestrebungen auch nicht aus einem wahllosen „Kampf gegen Rechts“ heraus definieren. Aber gerade wer chauvinistischen Tendenzen etwas Wirksames entgegensetzen möchte, müßte den EG-kritischen BürgerInnen herüberbringen, daß REPs und DVU nicht die einzigen sind, die sich noch getrauen, als Gegner dieser EG dazustehen, sondern daß es auch Leute gibt, die aus vernünftigeren Gründen für ein grundlegend anderes Europa stehen und wählbar sind.

Wer —wie die Grünen zur Zeit— richtig betont, daß die Maastrichter Beschlüsse zur künftigen politischen Union zu unkontrollierbaren, undemokratischen, zentralistischen Verhältnissen führen, statt des gegenteiligen, von den Grünen und so weiter bevorzugten Europa mit „Subsidiaritätsprinzip“ (=was auf jeweils unterer Ebene entschieden werden kann, wird nicht auf höherer Ebene entschieden), kann nicht andererseits die „real kommende“ EG erst mal befürworten. Wer das tut, fördert diese EG, und nicht die andere, die vielleicht eine Chance hätte, wenn die EG in der öffentlichen Meinung noch stärker in die Krise käme. Wer „ja“ zur EG sagt und behauptet, es sei möglich, sie hinterher durch die Grünen demokratisch umzustülpen (eine Diktatur nur demokratisch anzustreichen, würde ja nicht genügen), lügt sich selbst in die Tasche. Die Kunst wäre, die Spannung auszuhalten, daß einerseits ein klares Nein zur schon 1993 beginnenden EG-Diktatur nötig ist (willkürlich zusammengesetzte Beiräte in Brüssel entscheiden zum Beispiel unanfechtbar über BRD-Arzneimittel und so weiter) und daß trotzdem jeder Schritt des EG-Prozesses mitgestaltende Initiativen erfordern kann, um wenigstens das Schlimmste abzubiegen.

Die von den Grünen aus den Geschehnissen seit 1989 und der Wahl 1990 zu ziehende Lehre ist auch nicht einfach, jetzt pauschal zu allem ja zu sagen, was die herrschenden Kulissenschieber der Politik wollen, sondern differenzierter in die sich in der Bevölkerung selbst entwickelnde Diskussion einzusteigen. Das würde im Fall EG eher ein „So nicht“ ergeben. Ein „Ja zu Europa“ ist möglich, aber es hätte angesichts der realexistierenden EG eher rhetorischen Charakter. Herman Benz,

Villingen-Schwenningen

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