■ Die Anderen: "Lidove noviny" aus Prag und die Pariser "Liberation" schreiben zur Entlassung der russischen Regierung
„Lidove noviny“ aus Prag schreibt zur Entlassung der russischen Regierung: Gestern ist in Rußland etwas Unglaubliches passiert. Präsident Boris Jelzin sprach zur Nation und schlug nicht auf den Tisch. Er log nur wenig und bat hauptsächlich um Hilfe und Verständnis. Vor fünf Monaten kämpfte er wie ein Löwe um Kirijenko, gestern kämpfte Jelzin nur für sich – und verlor. Jelzins Schicksal ist tragisch, ruft aber nicht nur Bedauern hervor. Jelzin ist ein Prototyp für einen totalitären Führer ohne das kleinste demokratische Gespür, aber für das Ausland war er ein angenehmer Partner. Menschenrechte, freies Wort und Marktwirtschaft waren nebensächlich im Vergleich zu Jelzins Hand am Atomkoffer.
Die Pariser „Libération“ dazu: Nichts garantiert, daß Tschernomyrdin der Rolle des Retters Rußlands gerecht wird. Er ist ein Mann halber Maßnahmen, der Vorsicht und der Lobbies. Wie fast alle russischen Politiker scheint er eher von der Praxis eines „Jeder für sich“ angetrieben zu sein, als daß er ein wirkliches Projekt verkörpert, das Rußland eine Verwaltung gibt, die diesen Namen verdient, die Kassen überprüft, ohne die ausländischen Investoren in die Flucht zu treiben und ohne eine galoppierende Inflation auszulösen; die ungerechtfertigte Bevorzugung einiger weniger beendet; eine wirkliche industrielle Produktion wieder ankurbelt und sich der Erneuerung einer sich auflösenden Agrargesellschaft widmet.
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