■ Die anderen: "La Stampa" (Turin), "Mlada fronta Dnes"(Prag), De Standaard" (Brüssel) und der "Tages-Anzeiger" (Zürich) zur Sonnenfinsternis
„La Stampa“ (Turin) zur Sonnenfinsternis: Es kommen einem die letzten Theorien der Religionswissenschaftler in den Sinn, wonach das „Ende der Welt“ in der apokalyptischen Literatur als Ende des Individuums verstanden werden sollte, als mystischer Bruch der Barrieren des Ichs. Vielleicht jagt uns die Sonnenfinsternis Angst ein, weil sie etwas symbolisiert, was von einem zum anderen Moment geschehen kann, nicht nur um uns herum, sondern auch in uns: Die Möglichkeit, dass unsere ganze Welt, die Wirklichkeit, die wir im klaren Licht sehen, auf einmal von einem Trauerschleier verdunkelt wird – dem dunklen Schatten unseres Ichs.
„Mlada fronta Dnes“ (Prag) zum selben Thema: Das Warten auf die totale Verfinsterung der Sonne sorgt für eine teilweise Verfinsterung in den Köpfen. Die Sonne verschwindet für eine Weile, und alle wissen warum, wann und wohin. Eine Menge Menschen tut trotzdem so, als würde sie nie wieder zurückkehren. Der Tag wird kurz zur Nacht, und deswegen verhalten sich Millionen Menschen so irrational, als wären sie gerade vom Baum gestiegen.
Und „De Standaard“ (Brüssel): Man kann seinem Essen nicht mehr trauen, immer mehr Kernwaffen lauern, es gibt erneut Krieg in Europa. Und auf einmal wird deutlich, durch die Sonnenfinsternis, wie leicht dieses Getrabe und Gerenne aus dem Gewicht gebracht werden kann. Es gibt noch so etwas wie die Natur. Die Erde treibt in einem riesigen All, und nichts sagt uns, dass es immer so bleiben wird. Nicht alles ist unter Kontrolle. Die vielen tausende, die heute mit etwas Glück die Sonne verschwinden sehen, machen genau das Gleiche wie ihre Vorfahren: mit Ehrfurcht ihre Winzigkeit betrachten.
Und der „Tages-Anzeiger“ (Zürich): 1999 erleben wir die Verwandlung der Natur in einen disneylandartigen Themenpark. Die Finsternis wird zum Event gehypt, bis hin zu Live-Übertragungen. Aller Schwachsinn, der sonst frei flottiert, wird konzentriert auf die Sonnenfinsternis gerichtet. Alle wissen, dass die Welt nicht untergeht, und doch beschäftigt sich der halbe TV-Talk mit nichts anderem. Ein Psychologe der Uni Zürich behauptet, ohne um seinen Namen zu fürchten, Kinder, die unter der totalen Sonnenfinsternis geboren werden, seien Hoffnungsträger der Menschheit. Dass man davon so wenig merkt, muss daran liegen, dass die Finsternis, laut einem Astronomen des Max-Planck-Instituts, nur dem Tod vergleichbar ist. Wahrscheinlich heben sich Tod und Hoffnung auf.
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