: "Blavatzkys Kinder" - Teil 5 (Krimi)
Teil 5
An der Theke bestellte sie Kuchen. Sie bekam einen Bon und suchte sich einen Platz in einer Ecke, von dem aus sie die Leute beobachten konnte.
„Verdammt.“ Miriam zählte Geld und Reiseschecks. Die fünf Nächte in einem relativ teuren Hotel fraßen an ihrer Urlaubskasse.
Der kleine dicke Kellner brachte ihr den gewünschten Becher Milchkaffee. Sie lehnte sich zurück und sah sich um. Ihr gefiel die kitschige Einrichtung. Genauso mußten Kaffeehäuser aussehen: hohe Stuckdecken, Kristall- leuchter mit tropfenförmigen Anhängern, Leuchter und alte Lampen an den Wänden, Marmorböden, rote Teppiche mit Abnutzungsspuren von Jahrzehnten. In den beleuchteten Kuchentheken lagen die üppigen, vielfarbigen Resultate der Verarbeitung von ungefähr einer Tonne Zucker mit anderen duftenden, bunten Zutaten und diversen chemischen Zusätzen.
Junge und alte, warme und schrille Stimmen redeten und lachten durcheinander. Es störte sie nicht, die meisten Sprachen verstand sie ohnehin nicht. Sie beobachtete eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, einige alten Frauen, Touristen und Geschäftsleute. Dann holte sie aus ihrem Rucksack deutsche und englische Zeitungen, die sie in einem Buchladen gekauft hatte. Auf der bunten Seite einer bayerischen Tageszeitung fand sie eine kurze Meldung: Die Leiche einese wenige Tage alten Babys war im Bayerischen Wald nahe der tschechischen Grenze gefunden worden. Jemand hatte das Kind erwürgt und unzulänglich unter Laub und einer dünnen Erdschicht vergraben. Die Polizei spekulierte, daß die Mutter das Kind selbst getötet hatte. In einem Interview beschäftigte sich ein Psychologe mit der Frage: „Warum töten Frauen ihre Kinder?“
Später schlenderte sie durch die Straßen der Altstadt.
* * *
Irgendwann gelangte sie auf die Váci uta, die Haupteinkaufsstraße. Starker Berufsverkehr. Die Leute kauften ein oder eilten nach Hause. Auf einer Brücke, die eine Straßenunterführung überspannte, saßen rumänische Bäuerinnen mit bunten Röcken, weißgemusterten Blusen, roten und schwarzen Westen und Kopftüchern und boten bestickte Stoffe und Kleidungsstücke an. Touristen und Straßenverkäufer drängten sich auf den Bürgersteigen.
Drei Frauen standen mit einigen Kindern, die den Passanten kleine Zettel entgegenhielten, an einer Straßenecke. Miriam fotografierte, als die Frauen brutal und ohne Aufsehen von der Polizei vertrieben wurden. Niemand interessierte sich für den Vorgang. Sie sah noch einmal zurück. Die Frauen drückten sich in eine Seitenstraße, und sobald ihnen die Polizisten den Rücken gekehrt hatten, liefen sie zurück in die Einkaufsstraße.
Miriam wußte längst nicht mehr, wo sie war. Sie hatte den Stadtplan in ihren kleinen Rucksack gesteckt und ließ sich treiben. Vor ihr zweigte eine schmale Gasse ab, in der drei Leute nicht nebeneinander gehen konnten. Inzwischen war die Sonne untergegangen. Miriam zögerte. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und sie erkannte die Konturen der Häuser. Am Ende der Gasse warf der Schein einer weißlichen alten Straßenlaterne helle Flecken auf das Kopfsteinpflaster.
Unentschlossen stand sie an der Kreuzung, als sie einen schrillen Schrei hörte. Noch ein Schrei und noch einer, der kaum aufhören wollte. Eine Frau. Angst und Zorn in der Stimme.
Miriam stolperte einige Schritte weiter und sah zwei Gestalten, beide schwarz wie bewegliche Scherenschnitte. Plötzlich holte der größere Mensch aus und schlug zu. Die kleinere Person klammerte sich an ihn und schrie verzweifelt auf. Jetzt sah Miriam, daß es ein Mann war, der zu einem harten Schlag gegen eine Frau ausholte.
„Lassen Sie die Frau los! Sofort!“
Er traf die Frau an der Schläfe, als Miriam losrannte. Die Frau fiel auf die Straße. Der Mann drehte den Kopf zu Miriam um und floh in die andere Richtung. Sie beugte sich über die Gestürzte.
„Er ist weg. Ruhig, ganz ruhig“, murmelte Miriam und versuchte mit dem Tonfall das auszudrücken, was sie in der fremden Sprache nicht sagen konnte. Die Frau flüsterte etwas. Es klang noch fremder als Ungarisch.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“
Miriam half ihr beim Säubern ihrer Kleidung. Die kleine Frau war sehr jung. Das lange schwarze Haar unter dem verrutschten Kopftuch war zu einem Zopf geflochten. Sie hatte eine lange gerade Nase, einen kleinen Mund, schmale Schultern und war rundlich um Bauch und Hüften.
Fortsetzung folgt
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