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Archiv-Artikel

Kleiner Nenner, große Falltür

KOALITION Schwarz-Rot darf in den Verhandlungen nicht kleinmütig werden: Arbeit, Alter, Rente, Europapolitik – es gibt große Probleme zu lösen

Hans-Jürgen Urban

■ ist Diplom-Politologe und seit fast 30 Jahren Mitglied der Industriegewerkschaft Metall, als deren geschäftsführendes Vorstandsmitglied er heute arbeitet. Urban sitzt außerdem im Verwaltungsrat der Agentur für Arbeit.

Lange galten Große Koalitionen im deutschen Parlamentarismus als ungeliebte Kinder. Eine aus den zwei Volksparteien bestehende Regierung sei zu stark, eine Opposition aus den verbleibenden Parteien zu schwach. Eine solche Machtkonzentration aufseiten der Exekutive kann demnach nur in Ausnahmesituationen mit einem außergewöhnlichen Reformstau akzeptabel sein.

Wie sich die Zeiten ändern. Umfragen belegen: Unter den derzeit möglichen Koalitionen trifft Schwarz-Rot auf größte Zustimmung. Was lange nur als demokratiepolitische Ausnahme galt, erscheint jetzt als die beste koalitionspolitische Option. Das Risiko avanciert zum Glücksfall.

Doch diesem öffentlichen Ansehen entspricht eine ebenso hohe Erwartungshaltung. Und das könnte sich als Problem erweisen. Denn unter dem selbst erzeugten Sachzwang der „Haushaltsneutralität“ schmelzen die politischen Handlungsspielräume wie Schnee in der Herbstsonne. So entsteht die Gefahr, sich in Koalitionsverhandlungen nicht an der Lösung der realen Probleme, sondern an der Logik des kleinsten koalitionspolitischen Nenners zu orientieren. Es droht eine konsensfähige, aber kleinmütige Agenda, die vor den Erwartungen der Bevölkerung versagen muss.

Bedrohung für die Gesundheit

Wie hoch diese in sozial- und arbeitspolitischen Fragen sind, zeigt eine Befragung der IG Metall, an der sich mehr als 500.000 Beschäftigte beteiligten. Ganz oben stehen die Erwartungen an die Politik, die Prekarisierung der Arbeit zu stoppen und für faire Regeln auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen.

Zugleich wird deutlich, dass die Anforderungen der modernen Arbeitswelt zunehmend als Bedrohung der eigenen Gesundheit empfunden werden. Nahezu 80 Prozent berichten über wachsende Arbeitsverdichtung. Knapp über die Hälfte der Befragten fühlen sich ständig oder häufig gehetzt oder unter Zeitdruck. Alle Anzeichen sprechen für die weitere Zunahme von Belastungen und Gesundheitsgefährdungen.

Hier sind zweifelsohne Betriebsräte und Gewerkschaften mit einer aktiven Betriebs- und Tarifpolitik gefragt. Aber auch die Politik selbst muss handeln. Was nottut, ist eine „Anti-Stress-Verordnung“, wie sie die IG Metall ins Spiel gebracht hatte und die in der vergangenen Legislaturperiode Unterstützung von Bundesrat und Oppositionsparteien fand. Bisher weigern sich die Vertreter der Unionsparteien, verbindliche Regelungen zuzusagen. Sollte es dabei bleiben, wäre die Enttäuschung groß – nicht zuletzt über die SPD, die sich die Verordnung auf die eigenen Fahnen geschrieben hatte.

Mit Nichtachtung gestraft

Oder nehmen wir das Problem der „Alterung“ von Belegschaften und Gesellschaft. Die wenigsten Unternehmen sind darauf vorbereitet. Trotz einer aktivistischen Rhetorik von Arbeitgebern und Politik: Altersgerechte Arbeitsplätze bleiben Mangelware. Da verwundert es nicht, dass nur 31 Prozent der Befragten davon ausgehen, bis zum gesetzlichen Rentenalter durchhalten zu können.

Statt diesen Befürchtungen durch wirksame Problemlösungen zu begegnen, konzentrierte sich die Politik bisher darauf, die Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben schönzureden und die Angst vor Altersarmut durch die Erhöhung des Rentenalters auch noch anzuheizen.

Auch hier sind die Erwartungen eindeutig: Eine Große Koalition muss vom Problemtreiber zum Problemlöser werden. Statt der Einheitsrente mit 67 sind flexible Wahlmöglichkeiten für den Ruhestand gefordert. Eine verbesserte Ausstattung und ein erleichterter Rentenzugang für Erwerbsgeminderte, die öffentliche Förderung gleitender Übergänge und ein abschlagsfreier Ausstieg für langjährig Versicherte sind der Anspruch einer problemorientierten Rentenpolitik.

Zudem müssen niedrige Beiträge aufgewertet und das Rentenniveau zumindest stabilisiert werden. Gerade hier dürften sich Vereinbarungen auf dem kleinsten rentenpolitischen Nenner als Falltür für das Ansehen der Koalitionäre erweisen. Die bisherigen Meldungen aus den Verhandlungen bleiben weit hinter den Anforderungen zurück.

Bliebe die Frage nach der Zukunft Europas. Die Entscheider in der EU betreiben eine neurotische Politik der Haushaltskürzungen und des Sozialabbaus, angetrieben durch die aktuelle und zukünftige Bundeskanzlerin Angela Merkel. In den Krisenländern schlägt die einstige Europaeuphorie mitunter gar in Deutschenhass um. Und in Deutschland strafen die Menschen Europa mit demonstrativer Nichtachtung. Nur 40 Prozent der von der IG Metall Befragten wertschätzen eine solidarische Krisenlösung in Europa.

Antieuropäischer Populismus

Statt der Einheitsrente mit 67 sind flexible Wahlmöglichkeiten für einen Weg in den Ruhestand gefordert

Bisher deutet in den Koalitionsverhandlungen nichts, aber auch gar nichts auf den längst überfälligen Pfadwechsel in der Europapolitik hin. Im Gegenteil: Mit den von Angela Merkel angepeilten „nationalen Wettbewerbspakten“ würde eine rechtliche Struktur in Euro-Land ausgebaut, die die neoliberale Austeritätspolitik auf Dauer zementieren soll. Damit würden Sozialstandards weiter unterminiert, die soziale Spaltung vertieft und das für die deutsche Exportwirtschaft so notwenige Wachstum in Südeuropa weiter abwürgt. Die Abwendung der Menschen von Europa würde sich beschleunigen.

Kurzum: Während Erwartungen und Probleme eine tiefgreifende und mutige Reformpolitik verlangen, drohen Haushaltsrestriktionen und Koalitionszwänge in Richtung niederdimensionierter Vereinbarungen zu wirken. Eine Agenda des reformpolitischen Kleinmuts ließe jedoch die hohen Erwartungen der Menschen in tiefe Enttäuschung umschlagen.

Dies dürfte vor allem der SPD zu schaffen machen, von der die Umsetzung des vergleichsweise sozialdemokratischen Wahlprogramms erwartet wird. Doch auch der Parlamentarismus insgesamt trüge Schaden davon, insbesondere durch die Zunahme von Politikverdrossenheit und eine Energiezufuhr für den antieuropäischen Populismus.

In diesem Fall erwiese sich die Große Koalition am Ende doch als Risiko und keineswegs als Glückfall für die parlamentarische Demokratie.

HANS-JÜRGEN URBAN