: Ian Blair und die Moral von CO19
Die Affäre um den Terror-Todesschuss in London weitet sich aus: Wollte der Polizeichef die Untersuchung verhindern?
DUBLIN taz ■ Großbritanniens Polizeichef Ian Blair hat angeblich versucht, eine unabhängige Untersuchung des Todes von Jean Charles de Menezes zu verhindern. Der 27-jährige Brasilianer war am 22. Juli in der Londoner U-Bahn von Sicherheitskräften aus nächster Nähe getötet worden, weil man ihn für einen Selbstmordattentäter hielt.
Ian Blair argumentierte laut Guardian, dass die Erschießung lediglich intern untersucht werden dürfe, weil der Kampf gegen den Terrorismus Vorrang habe. Eine unabhängige Untersuchung, so warnte er, könnte der nationalen Sicherheit abträglich sein. Darüber hinaus sorgte er sich um die Moral der Elitetruppe CO19, die die Todesschüsse abgefeuert hatte.
Bei einem Treffen mit Vertretern des Unabhängigen polizeilichen Beschwerdeausschusses und des Innenministeriums wurde Blair jedoch überstimmt. Schließlich sei es gesetzlich vorgeschrieben, eine unabhängige Untersuchung einzuleiten, wenn die Polizei jemanden tötet, sagte ein Sprecher des Ministeriums. Blair behinderte diese Untersuchung offenbar von Anfang an.
Am Mittwochabend stellte sich überdies heraus, dass es ein Soldat war, der für die Überwachung des Hauses in der Scotia Road zuständig war. Die Sicherheitskräfte hatten nach den fehlgeschlagenen Londoner Anschlägen vom 21. Juli in der Nähe einer der Bomben einen Ausweis mit dieser Adresse gefunden. Er gehörte Hussein Osman, der später in Rom verhaftet wurde und nun nach Großbritannien ausgeliefert wird.
Der Soldat war ausgerechnet in dem Moment auf die Toilette gegangen, als de Menezes am Morgen des 22. Juli das Haus verließ. Die auf das Haus gerichtete Videokamera war nicht ständig eingeschaltet, um Batterien zu sparen. Deshalb gab der Soldat die Information weiter, dass ein „nicht identifizierter weißer Mann mit dunklen Haaren, Bartstoppeln, einer blauen Jeansjacke, blauen Jeans und Turnschuhen“ das Haus verlassen habe. Da er keine Videoaufnahmen zum Vergleich mit den Fotos von Osman habe, sollen sich andere Beamte den Mann ansehen, sagte der Soldat.
Zu der Zeit waren zwei Überwachungsteams und die bewaffnete Sondereinheit in der Nähe. Darüber hinaus nahm auch die neu gegründete Sonderüberwachungseinheit der Armee an der Operation teil. Welche Rolle sie spielte, ist bisher nicht bekannt. Ian Blair sagte jedoch, dass die Leitung der Polizei unterstand. Die Beamten wussten zu dem Zeitpunkt längst, dass Osman kein „weißer Mann mit dunklen Haaren“ war. Warum sie de Menezes mit ihm verwechselten, ist unklar. Als der Brasilianer den U-Bahn-Waggon betrat, warteten dort offenbar Polizisten auf ihn. Wenn die durchgesickerten Informationen stimmen, hatten die Polizisten de Menezes bereits überwältigt, als er von der Sondereinheit erschossen wurde.
Ian Blair hat die Todesschusspolitik von Anfang an verteidigt. „Die einzige Möglichkeit, einen Selbstmordattentäter zu stoppen, ist, ihm in den Kopf zu schießen“, sagte er damals.
RALF SOTSCHECK