praxisgebühr : Ambivalente Abschreckung
Sie ist sozial ungerecht und steuert nur halbherzig durchs Gesundheitssystem, aber sie wirkt: die Praxisgebühr. In Berlin gehen jetzt weniger Menschen zum Arzt. Das ist gut und schlecht zugleich.
KOMMENTAR VON RICHARD ROTHER
Gut ist: Die Gebühr hat offenbar bei den Patienten ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass eine medizinische Dienstleistung Geld kostet, wie Patienten von Heilpraktikern ohnehin wissen. Dass Menschen aus Langeweile zum Arzt gehen oder sich von Medizinern überflüssige Untersuchungen aufschwatzen lassen, dürfte nun wesentlich seltener vorkommen.
Das spart Geld und kommt letztlich dem Beitragszahler zugute. Weil es das undurchsichtige Gesundheitssystem, in dem noch viel zu viel Geld – bei Ärzten, Apothekern, Pharmaindustrie und Krankenkassenverwaltungen – versickert, einigermaßen finanzierbar hält.
Schlecht ist: Die Praxisgebühr schreckt offenbar auch Menschen vor dem Arztbesuch ab, die medizinische Hilfe brauchen. Vor allem arme Menschen gehen nicht oder zu spät zum Arzt. Für einen Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind 10 Euro Praxisgebühr natürlich mehr Geld als für einen Banker oder Lehrer. Die negativen Folgen liegen auf der Hand: Dem Betroffenen geht es schlecht, und eine zu späte Behandlung dürfte in vielen Fällen komplizierter und teurer werden.
Vernünftig und gerecht wäre also eine einkommensabhängige Gebühr. Dass sie wenig praktikabel erscheint – wer will schon den Steuer- oder Arbeitslosengeldbescheid zum Arzt mitbringen müssen –, sollte nicht davon abhalten, nach Lösungen zu suchen. Aber das ist kein Berliner, sondern ein bundesweites Problem.
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