post aus peking (5 und Schluss) : Gefahr in der Glücksstraße: Zehntausende Bittsteller pilgern Jahr für Jahr nach Peking und fordern dort ihr Recht
Viele leben schon seit Jahren in der Hauptstadt, campieren unter Brücken und trauen sich nicht mehr zurück in ihre Heimatdörfer
Im Süden Pekings gibt es eine Gegend, die in keinem Reiseführer vorkommt. Die Häuser mit Wellblech gedeckt, neben den schäbigen Suppenküchen türmt sich der Müll, die Menschen abgerissen wie man es selten sieht in der Stadt. Hinter einem Markt tauchen Kopierstuben auf, auch eine Rechtsanwaltskanzlei. Als die Kollegin, die Chinesisch spricht, mit einem der Männer ins Gespräch kommt, die Taschen mit kopierten Zetteln bei sich tragen, bildet sich schnell eine Menschentraube um uns. Sie bedrängen uns verzweifelt, stecken uns ihre Zettel zu. Einer ruft: „Bitte berichten Sie über die Verletzung der Menschenrechte in China!“
Ob wir es hier mit den Wanderarbeitern zu tun haben, die von Arbeitgebern nach Peking geholt und nie bezahlt werden – und die sich jetzt, wie man in letzer Zeit öfter hört, zu beschweren beginnen? Inzwischen versucht die Kollegin, sich aus dem wilden Gedränge zwei Gesprächspartner herauszufischen. Wir finden ein junges Geschwisterpaar und wollen uns mit ihnen absondern. Aus der erstbesten Garküche werden wir brutal herauskomplimentiert. Dann die Idee, mit dem Taxi ein Stück rauszufahren. Ein paar Straßenecken weiter finden wir endlich eines und steigen ein. Aber dann müssen wir plötzlich bemerken, dass sich der Fahrer weigert, uns zu befördern. Als wir aussteigen wollen, schubst uns ein Mann, den wir zuerst für einen Zivilbullen halten, zurück ins Taxi und lehnt sich von außen an die Tür. Er sagt, wir sollen warten, beantwortet aber keine weitere Frage und will sich auch nicht ausweisen. Er hat Brandnarben auf den Armen, wie sie von Zigarettenglut herrühren. Die Kollegin vermutet, er könnte ein beauftragter Schläger der besagten zahlungsunwilligen Arbeitgeber sein. Zum Glück lässt uns der Mann telefonieren, die Kollegin ruft einen Freund an und bittet ihn, die Polizei zu rufen. In der Zwischenzeit gelingt es der jungen Chinesin, aus dem Taxi zu entkommen. In diesem Moment hält direkt vor uns ein Polizeiauto, der Polizist darin schaut kurz und fährt dann weiter. Als uns der Mann mit den Brandnarben zwingen will, für ihn im Auto Platz zu machen und mit uns wegzufahren, rollen drei weitere Polizeiwagen ein. Der Mann mit den Brandnarben rennt weg. Schlagartig entspannt sich die Situation. Die Polizisten scheinen sich weder für uns noch für unsere Zettel oder den jungen Chinesen zu interessieren, der nicht fliehen konnte und sich nun wie gelähmt vor Schreck neben das Taxi auf den Boden setzt. Erst als wir die Polizisten darum bitten, uns aus dieser Gegend herauszubringen, befragen sie uns eingehender. Sie wirken erstaunt, als wir ihnen von dem Vorfall berichten.
Auf dem Weg nach Hause bemerken wir, dass wir nicht alle Zettel weggeworfen, sondern zwei übersehen haben. Einer davon ist an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen adressiert. Sein Autor beschreibt das Unrecht, dass seiner Familie vor mehr als 30 Jahren während der Kulturrevolution widerfuhr. Der Autor des anderen berichtet, wie sein Sohn auf der Polizeiwache seines Heimatdorfes zum Krüppel geschlagen wurde. In den nächsten Tagen erfahren wir, dass diese Bittsteller zu einer wachsenden Gruppe von Leuten gehören, die in Peking bei den Petitionsämtern der Regierung und des Parlamentes zu ihrem Recht zu kommen versuchen. Es wird vermutet, dass es in Peking inzwischen zehntausende von ihnen gibt – und dass viele von ihnen in der von uns aufgestöberten „Glücksstraße“ in der Nähe des Südbahnhofs campieren, weil sich hier viele Petitionsämter befinden. Nur einige dieser Bittsteller beschweren sich über ausbleibenden Lohn, die meisten von ihnen fordern Rechenschaft über Machtmissbrauch in ihren Heimatprovinzen. Viele leben schon seit Jahren in Peking, übernachten unter Brücken und trauen sich nicht mehr nach Hause, wo die auf sie warten, über die sie sich beschweren. Laut eines Artikels in der Time gibt die Beschwerdeabteilung des Nationalen Volkskongresses an, in den letzten zwei Jahren 30 Prozent mehr Beschwerdeschreiben erhalten zu haben. Einmal im Jahr, wenn das chinesische Parlament tagt, so die Time, wird in Peking eine Polizeirazzia veranstaltet, Bittsteller werden aufgegriffen und in ihre Heimatprovinzen zurückgezwungen. SUSANNE MESSMER