portrait : Berühmter Hinterbänkler wechselt
Lange war es still um Jakob Maria Mierscheid, jetzt plötzlich ist der langjährige Hinterbänkler wieder in den Schlagzeilen. Als erster amtierender SPD-Bundestagsabgeordnete hat der Parlamentarier aus dem Hunsrück jetzt angekündigt, sein Parteibuch zurückzugeben und für das neu gegründete Linksbündnis zu kandidieren.
Im politischen Berlin wurde die Meldung gestern mit großer Überraschung aufgenommen, weil Mierscheid nicht mit abweichenden Meinungsäußerungen aufgefallen war. Der SPD-Fraktionsvize Stiegler sagte, das Verhalten Mierscheids erinnere ihn an die Situation Anfang der Dreißigerjahre, als SPD-Anhänger in Scharen zur KPD übergelaufen seien und dadurch den Nationalsozialismus ermöglicht hätten. Der 72-jährige Mierscheid gehört dem Bundestag seit 1979 an und galt bis gestern früh als der Prototyp des unauffälligen Hinterbänklers. Für Aufsehen sorgte er mit einem Rundumschlag zur Wahlprognostik. Zuverlässiger als die Ergebnisse von Umfragen sei die Korrelation der Wahlergebnisse mit dem „Index der deutschen Rohstahlproduktion im Jahr der jeweiligen Bundestagswahl“, erklärte er 1983 im Parteiblatt Vorwärts. So habe die SPD ihr bestes Wahlergebnis bei der Bundestagswahl von 1972 erzielt, als auch die deutsche Stahlproduktion mit 46,6 Millionen Tonnen ihren historischen Höhepunkt erreichte. Bekannt geworden ist Mierscheid auch durch sein ökologisches Engagement, das in seinem Beitrag „Agrikulturelle Betrachtungen der energiepolitischen Implikationen einer allseitigen Induktion von Leuchtschnabelbeutelschaben in den Prozess der Haushaltsberatungen des Deutschen Bundestages zur Minimierung der Ökosteuerbelastung von nocturnalen Sitzungen des Haushaltsausschusses im Einzelplan 99.3 unter besonderer Berücksichtigung der Problematik des 30. Februars“ gipfelte.
Zu seinem Parteiaustritt erklärte Mierscheid, es sei ihm „nach Jahrzehnte langer Mitgliedschaft“ schwer gefallen, „der Partei Brandts und Wehners den Rücken zu kehren“. Für ihn gelte aber der Grundsatz: „Im Zweifel für die Belange der Schwachen.“
Weniger entschieden zeigte sich die Nachrichtenagentur Reuters, die Mierscheids Parteiaustritt gestern zunächst vermeldet, die Meldung dann aber zurückgezogen hatte – mit dem unfreundlichen Zusatz „kill“. Was den Kollegen offenbar entgangen war: Bei dem Hinterbänkler handelt es sich um eine fiktive Person, die seit Jahrzehnten in den Drucksachen des Bundestages gepflegt wird. Heute fristet Mierscheid auf der Homepage des Parlaments ein geduldetes Dasein, das sich vom wirklichen Leben offenbar nicht allzu sehr unterscheidet.
RALPH BOLLMANN