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Archiv-Artikel

peter ahrens über Provinz Kuschelige Schonräume fürs Leben

Schön war die Welt, als Kara Ben Nemsi Effendi und Ulrich Wegener noch durch Wüste und Fernseher stürmten

Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen bis zum Gehtnichtmehr darauf hingewiesen wurde, dass es bundesdeutsche Tradition sei, andere Leute nicht um 20 Uhr anzurufen, ausführlichst Frau Berghoffs „WC-Turnier“ zitiert wurde und Gesinnungs-Hetero Jens Riewa einmal in seinem Leben die eigene Schrift nicht lesen konnte, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An den gestrengen Herrn Köpcke, wie er unbewegten Äußeren Neuigkeiten aus dem fernen Mogadischu zum Besten gab. Vor unserem Familienfernseher wurde daraufhin gejubelt, der schneidige GSG-9-Oberst Ulrich Wegener, der anschließend auf dem Titelbild des Stern auf unserem Wohnzimmertisch lag, war für mich 11-Jährigen ein Held, und ich hatte neben Old Shatterhand, Jupp Heynckes und Justus Jonas von den drei Fragezeichen ein Vorbild mehr. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Die Heldentaten des Herrn Wegener im Wüstensand stellte ich mir so vor wie die von Kara Ben Nemsi Effendi, dem wackeren Deutschen, der die Araber schon Mores lehrte, als Saddam Hussein allerhöchstens eine finstere Sagengestalt von Scheherazade war. Leider gab es kein Jugendbuch über Herrn Wegener, wo ich all das hätte nachlesen können, was ich mir eingebildet hatte: Wie er mit seinem nietenbeschlagenen Henrystutzen in der Hand allein auf die Lufthansa-Maschine zustürmte, um die gesichtslosen Schurken zur Rechenschaft zu ziehen.

Aber es gab ja auch sonst genug zu lesen. Auch wenn es noch nicht die Zeit war, wo Fleisch gewordene Solarien zu Literaten des Jahres erklärt wurden. Unser Dieter Bohlen hieß Franz Schneider, Onkel Franz, wie er sich selbst bezeichnend an uns Kinder ranschmarotzte. „Katrin mit der großen Klappe“, „Nur Mut, liebe Ruth“, „Olga, Star der Parkschule“, „Silvie will die Erste sein“, „Michaela rettet das Klassenfest“ – Onkel Franz wusste, wie es im Leben und in Besonderheit in der Schule zugeht. Auszug aus irgendeinem Schneider-Buch-Klappentext: „Abschreiben und abschreiben lassen ist verboten“, behauptet Silvie. Lässt sie deshalb in der Mathematikarbeit nicht abschreiben? Die Freundinnen sind empört. Schließlich geht es um die Versetzung in die nächste Klasse. Und Leonore muss zu Hause ihre kranke Mutter pflegen.

„Hanni und Nanni“, „Burg Schreckenstein“, „Mein Bruder, der Torjäger“ – wenn heute noch Schneider-Bücher so wichtig wären wie früher, käme niemand auf den Gedanken, mit der Uzi in der Kinderfaust Klassenflure zu stürmen. Allen wäre bewusst, dass Schulen in Wirklichkeit kuschelige Schonräume sind, in denen Freundschaften fürs Leben wuchern, tiefste Beziehungen zwischen verständnisgefüllten Lehrkörpern und lerneifrigen Pferdeschwanz tragenden Mädchen herrschen und Jungens schlimmstenfalls Türklinken mit Zahnpasta bestreichen, wenn sie das Böse überkommt.

Schneider-Bücher galten in unserer Familie irgendwann plötzlich als verpönt, nachdem uns eine neue Deutschlehrerin, die so war, wie ihr Vorname Udalrike es vermuten ließ, Hanni und Nanni zu Schund erklärte. In ihrer Aufwallung schickte sie auch gleich Karl May in die ewigen Jagdgründe. Stattdessen wirbelte sie mit der Liste der ausgezeichneten Werke des deutschen Jugendbuchpreises durch die Luft. Danach mussten wir Willi Fährmann lesen, Wolfdietrich Schnurre, Max von der Grün oder Charlotte Kerr, die wir uns pflichtgemäß in der katholischen Pfarrbücherei um die Ecke ausliehen. Statt Internaten und Bubenstreichen, statt der unbeschwerten Welt von Marterpfahl und Kara Ben Nemsi vertieften wir uns in düstere Geschichten über Jugendliche, die aus Nazi-Deutschland fliehen mussten, Problemerzählungen über die Lebenswelt der türkischen Nachbarskinder und von überforderten Eltern, die ihren Nachwuchs in Regelmäßigkeit mit Ohrfeigen bedachten. Die schöne Zeit war vorbei. Wir schliefen Nächte voller Träume, in denen Pädagogen und Jugendgangs ihre Konflikte weiterlebten.

Merkwürdigerweise war Erich Kästner von dieser Kulturrevolution verschont geblieben. Obwohl ich zwischen dem „Fliegenden Klassenzimmer“ und „Burg Finkelstein“ keine großen Unterschiede ausmachen konnte. Dass die Jungens im Internat ihren Mitschüler in einen Papierkorb steckten, sollte hohe Literatur sein. Wenn sie im Landschulheim aber übers Abschreiben diskutierten, war das Lesestoff zum Naserümpfen. Damals merkte ich, dass diese Welt vielleicht doch ein bisschen komplizierter ist, als Onkel Franz mir das vormachen wollte. Irgendwann habe ich dann auch noch erfahren, dass Herr Wegener gar keinen Henrystutzen trug.

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