peter ahrens über Provinz: Bitte umblättern
Unsere Heimatzeitung darf sich damit schmücken, dass Helmut Schmidt sie „Bayernkurier des Nordens“ nannte
Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen ein Langbekinnter am Steuer eines kleinen roten Autos saß, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An den freundlichen Busfahrer, der uns immer zum Schulschwimmen in die Schwimmoper am Maspernplatz gefahren hat, fünfte und sechste Stunde. Da, wo der Schwimmlehrer uns anreifende 12-Jährige zu dem unerhörten Vorschlag ermunterte, unsere Badehose beim Duschen in der Umkleidekabine ruhig auszuziehen, da „sich schon keiner gegenseitig etwas weggucken wird“. Wir haben das aber nicht gemacht. Später erfuhren wir, dass der freundliche Fahrer nicht nur Busunternehmer, sondern auch einflussreicher Ratsherr der unangefochtenen CDU-Mehrheit der Stadt und zudem Vorsitzender des lokalen Karnevalsvereins mit dem hübschen Namen Heimatbühne war. Und noch ein bisschen später war zu erfahren, dass der Mann wiederholt Kinder sexuell belästigt haben sollte. Das gab einen veritablen Skandal, die Partei ließ den Mann flugs fallen. Die Vorwürfe gegen ihn kamen damals kurz nach einer Kommunalwahl ans Tageslicht. Die hiesigen Grünen hatten zwar schon vor dem Wahltermin davon gewusst, aber auf Wunsch der Christdemokraten bis nach der Wahl stillgehalten, als Dank dafür von der CDU – die die Wahl natürlich gewonnen hatte – einen Stellvertretender-Bürgermeister-Posten erhalten und damit schon Jahre vor Bundesumweltminister Jürgen Trittin den Beweis angetreten, in der parlamentarischen Demokratie und ihren Gepflogenheiten angekommen zu sein. Es waren halt nicht mehr ganz die wilden 70er-Jahre in Paderborn.
Über Skandale in dieser Stadt zu reden, war mindestens so unerhört wie das Weglassen der Badesachen unter der Dusche. Dafür sorgte schon die Heimatzeitung, die sich damit schmücken durfte, vom damaligen Macherkanzler Helmut Schmidt als „Bayernkurier des Nordens“ tituliert worden zu sein. Während im vorderen Teil der Zeitung der nimmermüde Kampf gegen die von der DDR bezahlte SPD und die von den Sowjets unterminierte evangelische Kirche geführt wurde, wurde auf den lokalen Seiten genüsslich vermeldet, wenn man mal einen der wenigen stadtbekannten Grünen beim Autofahren erwischt hatte oder dabei, wie er spätabends noch mindestens sieben elektrische Lampen in seinem Haus brennen hatte – von wegen Energiesparen.
Im Sommer regierte ein erfrischendes sattes Schützengrün die lokalen Seiten der Zeitung, die sich stolz „unabhängig – bürgerlich“ unter ihren Titelkopf geschrieben hatte und damit auf solchen Firlefanz wie „überparteilich“ souverän verzichtete. Glaube, Sitte, Heimat, so weit des Lesers Auge reicht. Die Zeitung als Vorreiterin der „Erziehung zu körperlicher und charakterlicher Selbstbeherrschung durch den Schießsport“, um aus der Satzung der Schützenbruderschaft St. Hubertus in Elsen zu zitieren. Alltäglich lasen sich Meldungen nach Art von: „Unter reger Beteiligung der Schützenbrüder musste dieses Jahr der Vogel schnell seine Federn lassen. Die Insignien wurden rasch aufs Korn genommen: Mit dem 17. Schuss holte sich Martin Westkämper den Apfel, mit dem 32. Schuss holte sich Andreas Drüke das Zepter. Jetzt wurde es spannend. Zahlreiche Anwärter schossen um die Königswürde. Bereits um 16.56 Uhr wurde Ulrich Holtmeier mit dem 63. Schuss auf den Vogel Schützenkönig. Ohne große Pause ging es nun weiter mit dem Schießen der Jungschützen auf das Bierfass.“
Umblättern. Nächste Seite. „Beim großen Festumzug durch den Ort erhielten nicht nur die Königin, in einem herrlich weißen Kleid mit zarten Farben abgesetzt, sowie die charmanten Hofdamen in Rosa und Dunkelblau viel Beifall von den Zuschauern am Straßenrand.“
Umblättern, dritte Lokalseite: „In der letzten Versammlung hatten sich die Vereine des Kreisschützenbundes mehrheitlich dafür ausgesprochen, den Ausrichtern des Kreisschützenfestes jeweils eine Vereinsfahne zur Verfügung zu stellen. Geschäftsführer Helmut Tewes bittet die Vereine, die Wappenfahnen mit wasserfesten Vereinsnamen zu versehen.“
Wobei spätestens beim Schützenfrühstück am Montagmorgen nach dem Festwochenende die Mägen der Schützenbrüder mindestens so viel Festigkeit beweisen mussten wie die Namen auf den Vereinsfahnen. Haben sich die Schützenbrüder im Internetforum schließlich schon im Vorfeld darüber Gedanken gemacht, dass auf dem Frühschoppen „die Erholungsphase zwischen Bier 34 und 35, denke ich, cliquenweise ablaufen sollte“. Oder wie es in dem alten Nordborchener Schützengedicht heißt: „Und wenn nach der Parade / das Freibier wieder läuft / dann war es jammerschade / um jeden, der nicht säuft.“
Der Kollege Werner Hansch würde sagen: Alles andere ist Schnullibulli.
Fragen zur Provinz?kolumne@taz.de
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