peter ahrens über Provinz: Der ganz normale Kirschkuchenhorror
An Großmutters Feier zum Namenstag gab es kein Entrinnen, für die Nachbarn nicht und auch nicht für Tante Mietze
Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen die diamantumleinte weiße Katze des Weltschurken Blofeld ihre Tatzen räkelte, fühlte ich mich nicht an Saddam, sondern an meine Kindheit erinnert. An meine Großtante, die aus mir bis heute unerfindlichen Gründen von allen Tante Mietze geheißen wurde und auf alten Familienfotos stets hinter einer Schmetterlingsbrille und vor einer Frankfurter-Kranz-Torte abgelichtet wurde. Wie ich erst nach ihrem Tod erfuhr, hatte Tante Mietze es in der Familie zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, als sie im Krieg auf dem heimischen Balkon stehend mit dem Gewehr ihres auf Heimaturlaub weilenden Mannes herumspielte. Dabei löste sich ein Schuss, der unglücklicherweise direkt in den Kirschbaum im Garten fuhr. Unglücklicherweise deshalb, weil dort gleichzeitig ein Nachbar emsig mit der Obsternte beschäftigt war und von der Kugel getroffen wie eine reife, fette Frucht vom Baum plumpste und sein Dasein aushauchte. Diese durchaus als peinlich empfundene Episode wurde in unserer Familie selbstverständlich totgeschwiegen, der Nachbar kurzerhand zum Kriegsopfer erklärt, und Tante Mietze blieb für mich die liebe Großtante hinter dem Frankfurter Kranz. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.
Tante Mietze trat stets im Doppelpack mit Tante Titta auf, und ich war noch zu klein, um mir über die Herkunft ihres Spitznamens groß Gedanken zu machen. Außerdem hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, bei Familienfesten gemeinhin irgendwann baldig nach dem Kaffeetrinken Frankfurter Kranz und Schwarzwälder Kirsch der Kloschüssel zu überantworten und mich daraufhin mit einer Wärmflasche auf dem Bauch ins Bett zu verabschieden. So war ein näherer Kontakt zu Mietze und Titta stets nur von kurzer Dauer. Wer heute von Familienfeiern redet, meint bekanntlich zumeist die blutleeren Festivitäten, bei denen kleine Kinder im violetten Tragetuch durchs Wohnzimmer geschleppt werden und anschließend die Erwachsenen sich zum Siedeln nach Catan zurückziehen.
In meiner Kindheit war das anders. Wenn meine Großmutter Namenstag feierte, wurden Tage zuvor in der Umgegend Sitzgelegenheiten akquiriert, um die zehn Geschwister meiner Oma samt Kindern, Enkeln und Urenkeln, samt Nachbarschaft und Pastor zum Hocken zu bringen. Alttestamentarische Heuschreckenplagen, der alliierte D-Day und neuzeitliche Jahrhundertfluten waren nur ein müder Abklatsch dessen, was an solchen Schicksalstagen bei uns invasierte. Tante Sefa, die regelmäßig hysterisch wurde, wenn wir unseren Teller nicht bis zum allerletzten Fitzel leer gegessen hatten, und im andern Fall mit der Verdammnis der Hölle drohte. Tante Änne, von der ich nur in Erinnerung habe, dass sie sich einen Teller nach dem anderen mit Hühnerragout füllte und das Wort Ragout dabei immer mit betontem T hinten aussprach. Tante Resi, die ihre große Liebe nicht heiraten durfte, weil es ein Protestant war, Tante Maria, die den glatzköpfigen Onkel Hugo zum Mann genommen hatte, von dem ich als Vierjähriger mit Vorliebe mit holländischem Genever abgefüllt wurde. Onkel Franz, der es als Uhrmacher und Juwelier als Einziger aus der Bagage zu Geld gebracht hatte. Franz machte es sich darob zur Gewohnheit, seine Geschwister reihum zu besuchen, sich wochenlang bei ihnen einzuquartieren und durchfüttern zu lassen und ihnen ebenso reihum im Gegenzug zu versprechen, sie zu seinem Alleinerben zu machen. Als er dann tatsächlich starb, hinterließ er immerhin einen Brillantring, um den sich anschließend die gesamte Verwandschaft balgte und den Anwälten der Region zu einem gewissen Wohlstand verhalf.
Am anderen Ende des Tisches hockten die Nachbarn wie festgewachsen: der von gegenüber, über den die ganze Straße munkelte, er sei ein hochrangiger Nazi gewesen, der nur davongekommen sei, weil die Russen nach dem Krieg versehentlich einen anderen an seiner statt aufgeknüpft hatten. Inzwischen war er längst alt, konnte aber von alten Gewohnheiten nicht lassen. Wenn jemand auf der Straße nur ansatzweise falsch parkte, zitierte er die Polizei herbei und rühmte sich ansonsten, mit einem Gewehr neben dem Bett zu schlafen, um bei potenziellen Einbrechern der Polizei die Arbeit abzunehmen, damit die sich weiterhin auf Falschparker konzentrieren konnte.
Daneben die Mannstolle von drüben, die in den 50ern im Minutentakt einen anderen Kerl im Bett gehabt haben soll. Auch das erfuhr ich jedoch erst nach ihrem Tod. Ich kannte sie später nur gichtig gekrümmt an der Seite eines Angetrauten, der mit Gamsbart am Hut und Kniebundhosen zum sonntäglichen Gottesdienst auszurücken gewohnt war, als gelte es, ein Kruzifix in der Morgenfrische zu schießen. Die Nymphomanin konnte ich nur mühsam mit diesem Bild in Kongruenz bringen. Am Ende des Tages sangen alle den Schneewalzer. Als meine Oma starb, war das auch das Ende der rauschenden Familienfeiern. Es ist nicht wirklich schade drum.
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