off-kino : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
„Es war ein Traum, aber es war kein Traum.“ Das paradoxe Fazit, das die Mädchen Mei und Satsuki in Hayao Miyazakis Anime-Meisterwerk „Tonari no Totoro“ nach einem ihrer nächtlichen Abenteuer mit einem pelzigen Fantasiegeschöpf ziehen, könnte als Motto für nahezu jeden Film des japanischen Zeichentrickregisseurs gelten. So auch für „Chihiros Reise ins Zauberland“, in dem sich die zehnjährige Heldin ziemlich unvermittelt einem vermeintlichen Albtraum ausgesetzt sieht: Eben noch mit ihren Eltern auf dem Weg zu ihrem neuen Haus, hat es sie plötzlich in eine Parallelwelt verschlagen, in der die Hexe Yubaba ein Badehaus für Götter betreibt. Die Eltern sind in Schweine verzaubert, der Rückweg ist Chihiro abgeschnitten, zudem fängt ihr Körper an, sich aufzulösen. Doch für Chihiro ist dieser Trip in die ihr fremde Welt am Ende auch eine Reise zu sich selbst: Aus dem verzogenen und ständig maulenden Kind wird ein selbstbewusstes, zielstrebiges Mädchen. Wie die meisten seiner Werke spiegelt auch dieser von überbordendem Detailreichtum gekennzeichnete Film Miyazakis immanent zivilisationskritischen Ansatz wider. Denn Chihiro bewahrt sich in der materialistischen Welt des Badehauses ihre kindliche Unschuld: Weil das Gold, nach dem Yubaba und ihre Angestellten gieren, für sie keinen Wert besitzt, rettet sie die Belegschaft vor dem einsamen Gott „Ohngesicht“, der mit vermeintlichem Reichtum lockt und alles zu verschlingen droht. Doch eine Einteilung der Charaktere in Gut und Böse macht bei Miyazaki niemals Sinn: In seinen Filmen sind alle Figuren stets komplexe Charaktere mit ebenso komplexen Motivationen.
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Fünfundsechzig Jahre wäre die vor über zwanzig Jahren verstorbene österreichische Schauspielerin Romy Schneider dieser Tage alt geworden. Gegen allerlei Widerstände aus dem deutschsprachigen Raum, wo man die junge Romy gern als Märchenprinzessin vereinnahmt hätte, hatte sie es mit harter Arbeit zum gesamteuropäischen Star gebracht – und wurde doch nie glücklich. Ihr trauriges Leben sichert ihr bis heute einen Ehrenplatz im Golden Blatt, doch dass sie ihre Filme lieber in Frankreich oder Italien drehte, verzieh man ihr in der Heimat nie. In Orson Welles’ spätexpressionistischer Kafka-Verfilmung „Der Prozeß“ (1962) verkörpert Schneider die kleine Rolle der undurchsichtigen „Pflegerin“ eines verschlagenen Advokaten (Welles), der den Angeklagten Josef K. (Anthony Perkins), der bekanntermaßen nicht weiß, was man ihm vorwirft, verteidigen soll. Die eigentliche Hauptrolle spielt sowieso die Kamera: Weitwinkelobjektive bewirken Verzerrungen, Untersichten erzeugen das klaustrophobische Gefühl, die Wände rückten zusammen und die Decke falle einem jeden Moment auf den Kopf, und in tiefenscharfen Einstellungen von albtraumhaften Dekorationen verliert sich das bedrängte Individuum – terrorisiert von einer mysteriösen Macht, die es nicht begreifen kann. Der Einzelne als Opfer eines repressiven Systems – vielleicht kann man Welles’ Film auch als seine Abrechnung mit Hollywood begreifen. LARS PENNING