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Archiv-Artikel

normalzeit HELMUT HÖGE wider die Okulartyrannis

Shooting Stars – das neue Filmfilmvergnügen

Mein Freund Max (54) ist voll arbeitslos, nimmt sich zur Berlinale aber immer frei. Er sitzt dann in den einschlägigen Lokalen und Lobbys herum, wo er von vielen Leuten huldvoll angelächelt und begrüßt wird: Sie halten ihn für einen berühmten Regisseur oder Filmbusinessman – zu Recht, denn er sieht genauso aus. „Jedes Jahr gibt es mehr Mädels, die ganz scharf auf mich sind“, meint er. „Wenn ich vorm Borchardt Autogramme gebe, schreibe ich ihnen jetzt immer meine Telefonnummer dazu.“

Max ist nicht der einzige Abstauber auf der Berlinale, die immer mehr zu einem Publikumsfestival wird. Die Leute sind jedoch mitnichten an den Filmen interessiert. Wenn man früher von einem Trend zum „hinteraktiven Medium“ sprach, womit gemeint war, dass hinter der Kamera mehr los ist als davor, dann muss man nun von einer „hinteraktiven Projektion“ sprechen, d. h., der wahre Film läuft vor den spotlighterhellten Kinos ab – und nicht in den dunklen Sälen.

Dazu hat die Berlinale-Verwaltung selbst wesentlich beigetragen, indem sie 1. ihre durchgehend blödsinnigen Wettbewerbsbeiträge im fünfstöckigen Musicalcenter am Potsdamer Platz präsentiert, wo sich zwar jeder als VIP vorkommt, wenn er da reingeht, aber dann nichts vom Film mitkriegt; und 2. wie verrückt die Springerstiefelpresse hofiert, die sich einen Dreck um die Filme schert, dafür aber jede Filmstartitte in Großformat feiert. Das macht insofern Sinn, als der Spielfilm generell am Ende ist – so wie vor ihm die Oper und das Musical. Es sind alles nur noch vage Versprechungen auf echte Pornografie: Sieht man am Ende, wie er ihn reinsteckt oder nicht? That’s the question!

Und weil man das in jeder Sexshopkabine haben kann, halten sich mehr und mehr Berlinale-Besucher gleich an den Glamour drum herum: „Die Sucht nach dem Chichi zeigt sich immer nackter“, so sagt es der Paris-Bar-Besitzer Michel Würthle, der diesem Trend freilich auch nur noch dumpf nachhechelt. Dahinter steckt aber doch ein echtes menschliches Rühren, ja, eine Widerständigkeit gar.

Bekanntlich waren die 68er wesentlich filmorientiert: Wie die taz gerade anlässlich der Premiere von Bernardo Bertoluccis „Träumer“ schrieb, war damals das Kino „der politischste Ort“. Zu erinnern sei an „Viva Maria“, „Die Schlacht um Algier“, „Sacco und Vanzetti“, sowie an Godards und Antonionis Filme … Noch 1975 gingen meine Freundin und ich in Paris jeden Abend zusammen mit anderen Pärchen ins Kino – grauenhaft! Denn eigentlich verstanden wir uns als absolut agoraphil. Alles Einbildung!

In meiner WG in der Mommsen wohnte sogar mal ein Germanist, der zunehmend agoraphob wurde. Am Ende kam er nur noch aus seinem Zimmer, wenn wir anderen schliefen. Zur FU ging er schon lange nicht mehr, dafür besuchte er nachts immer irgendwelche Spätvorstellungen. Folgerichtig nahm er irgendwann einen Job im Arsenal an.

Wenn ich heute an dessen Betreiber, das Ehepaar Gregor, denke, das seit 1970 für die Ausrichtung der 68er-Sektion des Berlinale-Forums zuständig ist, dann überkommt mich leises Mitleid: Mehr als ein Drittel ihres langen Lebens haben sie in dunklen Kinosälen verbracht! Ist demgegenüber nicht die Filmignoranz all der Berlinale-Besucher, die nur ein Interesse am Scheinwerferlicht, an den TV-Kameras, den roten Teppichen und den halb nackten Filmstars haben, viel lebendiger und gesünder? Ist der Platz vor den Kinos nicht vielmehr die Agora – und drinnen nichts als Lug und Trug: idiotische, ausgedachte Handlungen und hanebüchene Dialoge bzw. Tricks/Stunts von überbezahlten Halbaffen in teuren Kulissen?

Roland Barthes vermutete bereits: „Amerikanischer Film – das ist ein Pleonasmus.“ Heute, da man Bestseller nach US-Blockbustern schreibt (Jonathan Franzen, Elizabeth Wurtzel), sich nachts als Hauptdarsteller träumt und tagsüber in Lebensplanung und Outfit berühmte Filme kopiert, ist es nur konsequent, wenn man wenigstens auf der Berlinale diesem ganzen Schwachsinn zu entkommen trachtet, indem man die Filme meidet und sich gleich unter die Filmschaffenden mischt.

Max ist es übrigens schon zweimal passiert, dass so eine Berlinale-Braut, die ihn in ihr Hotelzimmer einlud, dort fragte, ob er was dagegen habe, wenn sie „das Ganze“ auf Video festhalte.