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Archiv-Artikel

normalzeit HELMUT HÖGE über Zwillingstreffen und -forschung

Ein Ei wie das andere

Am Wochenende fand im Tempodrom das 3. deutsche Zwillingstreffen statt, zu dem einige hundert Zwillingspaare zwischen 5 und 75 Jahren angereist waren – auf Einladung des Ulmer Konzerns Ratiopharm. Die Zwillinge hatten sich für ihre „Auftritte“ präpariert: gleiche Klamotten angezogen und Haarfrisuren machen lassen.

Die Medien wussten das zu honorieren, besonders wenn es sich dabei um attraktive, weibliche Zwillinge handelte. Umgekehrt testet zum Beispiel die Verhaltensforschung bei Zwillingen, ob sie unabhängig voneinander dieselben Männer beziehungsweise Frauen attraktiv finden. Dazu referierte der Zwillingsforscher Riemann bereits auf dem 2. Zwillingstreffen von Ratiopharm: „Zwillinge und das Konzert der Gene“.

Für die angereisten Zwillinge selbst war das „große Zwillingscasting“ sowie ein „TV-Casting“ und die Autogrammstunden der seit 2000 aus der Ratiopharm-Werbung bekannten Zwillingspaare attraktiv. Besonders einige junge blonde Zwillinge posierten auf dem Rasen am Tempodrom vor den Kameras, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.

Ihr Medienbewusstsein war auf der Höhe der genetischen Zwillingsforschung, die seit dem Zweiten Weltkrieg alle „lebenden Entitäten als programmierte Kommunikationssysteme“ fasst, wie die Biologiehistorikerin Lily E. Kay das nennt. Den Soziologen Marshall Mc Luhan hatte diese Verwendung von Kybernetik und Informationswissenschaft in der Molekularbiologie zu der Bemerkung veranlasst: „Das Medium ist die Botschaft.“

Neuerdings meint Jean Baudrillard sogar: „Es gibt kein Medium im buchstäblichen Sinne des Wortes mehr: Von nun an lässt es sich nicht mehr greifen, es hat sich im Realen ausgedehnt und gebrochen …“ Die Medien (ver)senken sich einerseits tief ins Soziale, andererseits gelangen sie mit den „entschlüsselten“ genetischen Botschaften nach oben – und breiten sich auf allen Oberflächen aus.

Mit einigem Recht kann man behaupten, dass diese Entwicklung mit der deutschen Zwillingsforschung begann – und zwar an der Selektionsrampe von Auschwitz, wo der Humangenetiker Dr. Mengele 200 Zigeuner- und Juden-Zwillingskindern aussortierte, um ihre Intelligenz zu testen, indem er ihnen als Erstes die Frage stellte: „Alle Tiere sterben. Napoleon ist gestorben. Ist Napoleon ein Tier?“ Mengele fungierte damals als das Frontschwein von Professor v. Verschuer, der erst Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie war und nach dem Krieg in Münster lehrte.

In Auschwitz wurden die Zwillinge psychisch und physisch vermessen, solche mit körperlichen Anomalien ließ Mengele töten und sezieren, ihre interessanten Teile bekam Verschuer in Berlin. Die anderen Zwillinge wurden später mit Typhus infiziert, ihr Blut bekam das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie, dessen Direktor, Nobelpreisträger Professor Butenandt, nach dem Krieg Präsident der Max-Planck-Gesellschaft wurde.

Die Vererbungsforschung ging ab 45 jedoch in amerikanische Hände über und geriet dort zunächst unter militärische Leitung, wobei vorwiegend Bakteriengenetik betrieben wurde. Daneben wurde und wird natürlich auch in den USA Intelligenzforschung und Schlimmeres anhand von Zwillingen betrieben, was bis heute Kontroversen auslöst. So stellte man zum Beispiel in unserem 50er-Jahre-Biologiebuch die mendelschen „Erbsengesetze“ direkt neben den Stammbaum der Familie Bach, um die Vererbbarkeit von „Musikalität“ zu suggerieren, wir Schüler waren jedoch von der Lernfähigkeit aller Menschen derart überzeugt, dass wir anders interpretierten: „Wenn ein Bach-Kind in so einer Familie aufwächst, wo sich alles nur um Töne und Noten dreht, dann muss es ja musikalisch werden – ob seine Gene wollen oder nicht!“

Unsere rechten Lehrer gaben verunsichert klein bei, die heutigen linken Lehrer dagegen sind angesichts ihres frustrierend-zähen Unterrichts gerne bereit, die mangelnden Leistungen ihrer Schüler auf genetische Dispositionen zurückzuführen. Die Zwillingsforschung hilft ihnen dabei. Sie ist für den ganzen Neoliberalismus die Entlastungswissenschaft schlechthin – und die mediengeilen Zwillinge machen nur das Beste daraus!