piwik no script img

Archiv-Artikel

normalzeit HELMUT HÖGE über lange Nächte

„Als Unterworfene oder Freie durchwachen, das ist die Frage.“ (M. Foucault)

Der Lieblingsspruch meines Bauern und Chefs lautete einst: „Lange Tage, kurze Nächte, das ist was für Bauernknechte!“ Lang ist es her. Selbst der Schunkelhit der Gebrüder Blattschuss „Kreuzberger Nächte sind lang“ gilt nicht mehr: Nach Mitternacht sind die Straßen in SO 36 wie leer gefegt. „Dank Hartz IV“, wie der Altkreuzberger Diddi meint, der diese Regierungsreform zur Umschichtung der „Stütze“ von unten nach oben jetzt so definiert: „Sich uff Hartzkosten vier Brasilnutten einfliegen lassen.“

Dieser Trend begann schon zu Wendezeiten – mit dem größten ABM-Arbeitgeber im Osten: Jörg Stein und seiner Firma Mypegasus. Der „68er“ flog regelmäßig die ihm liebsten Treuhandmanager zu einem „Samba-Tisch“ nach Rio, wo seine Geliebte lebte.

Spätestens seit Hartz IV haben sich die „langen Nächte“ vollends aus Berlin wegverlagert. Die Soziologen nennen diesen Vorgang „Brasilifizierung“. Um den Touristen hier aber trotzdem was zu bieten, werden nun neben einem Multikulti-Samba-Umzug laufend neue „Lange Nächte“ von oben inszeniert: Die Wissenschaften, die Museen, die Clubs – alle müssen ran.

Inzwischen gibt es schon „Die lange Nacht der Heimwerkermärkte“, „der Einkaufscenter (des Shoppings)“, „des Fußballs“, „des Tanzes“, „der Sterne“, „der rot-grünen Regierung“, „der elektronischen Klänge“, „der Literatur“, „des Verbraucherschutzes“, „des schnellen Anschaffungskredits“, „der Schuldnerberatung“, „der Hotelbars“, „des Döner Kebab“, „des Sommers“ und so weiter. Nur die Swingerclubs und Bordelle haben noch keine „Lange Nacht“ (LN) eingeführt, weil sie immer lange Nächte haben – aber wegen Hartz IV zunehmend weniger Kunden.

Losgetreten wurde die LN-Lawine von der Berlin Tourismus Marketing GmbH – kurz BTM. Sie startete just zur gleichen Zeit wie die neoliberale „Brasilifizierung“ 1993. Man kann also sagen, dass sie dieser (auf der Grundlage eines „Tourismusförderungsgesetzes“) entgegenwirken soll: zum Beispiel mit einem „Berlin-Kalender“, per Internet und mit einer regen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Wären die 150 BTM-Mitarbeiter nicht trotz ihres Jahresbudgets (von 10 Millionen Euro) so bescheiden, könnten sie stolz vermelden: Wir haben es 2004 schon auf 13 Millionen Übernachtungen gebracht – in der „Cool Capital“, was Berlin Steuereinnahmen in Höhe von 703 Millionen Euro bescherte. Seit dem bedauerlichen Wegfall der Ost-Raver auf der Loveparade bemühen wir uns nun speziell um die Chinesen, die als ganz besonders kulturinteressiert gelten, weswegen Berlin genau das richtige Erlebnisurlaubsziel für sie ist.

1.500 Veranstaltungen gibt es derzeit pro Tag in Berlin, allein 80.000 Tagungen und Kongresse übers Jahr, wobei die BTM-Mitarbeiter natürlich vor allem die „medienwirksamen Events“ vermarkten. Dies geschieht unter anderem über ihr „Call-Center“ sowie über ihre zwei „Tourist Info Center“ im Brandenburger Tor und im Europa-Center. Daneben gibt es inzwischen noch einen „Infopoint“ im KaDeWe, ein „Tourist Info Café“ im Fuß des Fernsehturms und demnächst einen „Centerpoint“ im neuen Lehrter (Haupt-)Bahnhof.

Berlin galt einmal zu Zeiten der Studentenbewegung als die „heißeste Stadt“ Deutschlands, was dann noch einmal während der Wende kurz hochgekocht wurde. Aber bereits 1993 geißelte der Kreuzbergspezialist Schlögel die letzten Autonomen, die von unten und fast kostenlos allnächtlich dort randalierten, als „Landsknechte“: ein Begriff, der nicht falscher sein konnte, er bekam dafür sofort den großen Tagesspiegel-Literaturpreis.

Danach wurde es ruhig im Problemkiez. Seitdem haben wir es mit immer mehr hoch bezahlten Landes-Knechten zu tun, die eine „Lange Nacht“ nach der anderen von oben organisieren und vermarkten, zusammen mit 170.000 in dieser Boombranche inzwischen „Vollzeit-Beschäftigten“. Schon kommt die aus Genf angereiste Touristin Jeanne Catala laut BTM zu dem vernichtenden Urteil: „Berlin ist die heißeste Stadt Europas!“