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Archiv-Artikel

nebensachen aus port-au-prince Wenn der Natur wieder Haare wachsen

Ein Wunder ist aus Haiti zu vermelden: Im „Land der Berge“, wie es die Taíno-Ureinwohner nannten, bekommen die kahlen Anhöhen wieder „Haare“. Wo im „Armenhaus Lateinamerikas“ seit Jahren erodierte Berglandschaften dominieren, wachsen Bäume und Büsche gen Himmel. Lyrisch verpackt meldete Leo Reyes, dominikanischer Exbotschafter in Haiti, aus der Nachbarrepublik den „Haarwuchs der Natur“. Auf einer ganzen Seite ließ der Exdiplomat die Leser in der Abendzeitung El Nacional an dem Ereignis rund um den Fluss Artibonite teilhaben. „Das Wachstum der Bäume wird als ein Wunder angesehen“, schrieb Reyes.

In den fast halbwüstenähnlichen, semiariden Gebieten rund um Arcahaie dominiere endlich wieder das zarte Gelbgrün von schnell wachsenden Eukalyptusbäumen und Akazien. Auf den Feldern seien Melonen, Kürbisse und Straucherbsen, am Straßenrand Verkäuferinnen zu sehen, die die neue Erntefülle aus dem Landbau anbieten würden. Und in Schluchten und auf Anhöhen erhole sich die Natur auch deshalb, weil die Bewohner ihre Äxte und Macheten in die Ecke gestellt und den Holzeinschlag zur Kohleherstellung eingestellt hätten. Zusammen mit dem derzeitigen dominikanischen Botschafter hatte Reyes die Region nach Jahren wieder befahren.

Wesentlich verhaltener kommentiert Astrid Nissen von der Diakonie Katastrophenhilfe die Wachstumsmeldungen aus dem Land, das einst über einen Waldbestand von mehr als 85 Prozent verfügte, der durch Raubbau an der Natur auf heute knapp 1,6 Prozent reduziert worden ist. Dass die Region „ungewöhnlich grün“ sei, sagt Nissen, liege schlicht an den außergewöhnlichen Regenfällen. In semiariden Regionen mit Baumbewuchs blühe die Natur nach starkem Regen regelrecht auf – die Dürre kehre aber zurück, sobald die Regenwolken verschwunden seien.

Was den Laien und oberflächlichen Beobachter angesichts der vorherrschenden Kahlheit im Land hoffen lässt, beunruhigt eher die Katastrophenhelfer in Haiti. Denn es hat vor allem in Zeiten geregnet, in denen sonst im „Land der Berge“ kaum ein Tropfen fällt, wie Nissen beobachtet. „Manchmal so stark, dass es wieder zu regional begrenzten Überschwemmungen gekommen ist.“

In den vergangenen zwei Jahren sind ungefähr 6.000 Menschen bei Überschwemmungskatastrophen umgekommen.

De facto sei das Ökosystem inzwischen nachhaltig verändert. Die Regenzeit habe sich verschoben. Das erkläre auch die Anwesenheit der vielen Vögel, die sich in dieser Zeit laut lärmend versammeln, um sich an den grünen Trieben zu laben. In Haiti werden sie „Madame Sara“ genannt – wie die Straßenhändlerinnen, die laut feilschend versuchen, ihre Waren an die Frau zu bringen. „Sobald es wieder trocken wird, verschwinden die Vögel.“

Und die Axt haben die Köhler noch lange nicht begraben. Der Restbaumbestand ist nach wie vor bedroht. Fast 90 Prozent der Bevölkerung kocht mit Holz mangels anderer Brennstoffe. „Dass derzeit keine Holzkohle produziert wird“, so Nissen, „liegt daran, dass das Holz zu feucht ist für gute Holzkohle.“ Die Köhler warten auf bessere Zeiten. Im Dezember beginnt die Trockenzeit. Dann werden wieder die Meiler qualmen – und am Straßenrand preisen die Madame Saras ihre Holzkohle an. Der Wald in Haiti wird sich weiter in Rauch auflösen. HANS-ULRICH DILLMANN