nebensachen aus peking : Auch ruhige Menschenmassen haben eine politische Wirkung
Feiertagsspaziergänge auf dem Tiananmen
Mao Tse-tung hat nicht zufällig Monate unnütz vergehen lassen, bevor er am 1. Oktober die Volksrepublik ausrief. Denn Pekings Wüstenklima, das sonst zwischen Frost, Wind und Hitze kaum Erholung kennt, legt zum Nationalfeiertag Anfang Oktober regelmäßig eine Festpause ein. So ist die Hauptstadt seit Tagen voller Spaziergänger. Allein über den Tiananmenplatz wanderten in den ersten drei Oktobertagen 1,2 Millionen Menschen. Zumeist sind es Pekinger in wenig auffallender Freizeitkleidung, die zwischen den Familien- und Freundesgelagen der an fünf Tagen arbeitsfreien Festwoche Ausgang brauchen.
Deutlich abgehoben erkennt man die Reisenden: Selbstbewusste Taiwaner und Hongkonger neben einfachen Bauern in grünen und blauen Mao-Anzügen. Dabei strahlen die chinesischen Massen eine Ruhe und Gelassenheit aus, wie sie in den von Kulturrevolution und Studentenrevolte gezeichneten Geschichtsbildern vom großen Platz in der Mitte Pekings nicht vorkommen. Zugleich aber verfehlen die vielen Menschen an so einem Ort nicht ihre politische Wirkung, die wohl nicht anders als zu Gunsten von Maos Nachfolgern interpretiert werden kann. Denn in einem autoritären Staat geht man nicht auf dem Hof der Herrschenden spazieren, wenn man von ihnen aktuell etwas zu befürchten hätte.
Wie politisch die scheinbar harmlose Feiertagsatmosphäre auf dem Tiananmen ist, zeigen auch die beiden einzigen Proteste der letzten Tage. Ein Arbeitsloser versuchte sich vor tausenden Passanten auf dem Platz zu verbrennen. Kurz darauf stürzte sich ein Pekinger aus Protest gegen die Beschlagnahmung seines alten Hofhauses von einer Brücke im nahen Kaiserpalast. Beide Aktionen verwiesen auf die größten Probleme des Landes: Arbeitslosigkeit und Korruption. Darüber reden die Pekinger nicht gern. So wie es auf dem Lande in China üblich ist, dass jeder Bauer seinen Dorfparteisekretär korrupt schilt, so gehört es in der Hauptstadt noch zum guten Ton, auch dem größten Parteischwein nicht einfache Profitabsichten zu unterstellen. Wird hier ein Offizieller der Korruption überführt, heißt es nur, er habe die falschen Freunde. Dass die Vertreibung alter Bewohner aus ihren Häusern nicht auf Anweisung eines tumben Parteikaders geschieht, gegen den man machtlos ist, sondern aufgrund einer kaltblütigen Nacht-und-Nebel-Aktion profitgieriger Immobilienhaie, gegen die man im Namen gültigen Rechts vorgehen kann – das ist für die Bürger der roten Kaiserstadt immer noch unvorstellbar.
Genauso unvorstellbar ist für die Pekinger die Arbeitslosigkeit. Das liegt an der sozialistischen Vergangenheit wie am gegenwärtigen Bauboom vor den Olympischen Spielen 2008. Auch hat die Stadt fünfzig Jahre lang keine Bettler gesehen, erst jetzt tauchen sie wegen neuer Freizügigkeitsbestimmungen wieder auf. In Wirklichkeit fehlt dieser Stadt all das, was der Kapitalismus freisetzt – von der Geldgier bis zum sozialen Ekel – nur im Bewusstsein. Die Realität hat sich längst gewandelt. Weshalb die vielen Feiertagsspaziergänger auf dem Tiananmen immer noch einer anderen Zeit anzugehören scheinen, in der nicht jeder nur für sich kämpfen musste. Vielleicht ahnen sie auch schon die Veränderungen und kommen aus Sentimentalität. Für die regierende KP ist das so zweitrangig wie die Systemfrage. Hauptsache, die Leute kommen. GEORG BLUME