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Archiv-Artikel

nebensachen aus istanbul Eine Stadt im Ausnahmezustand, die Einwohner flüchten

Kürzlich erhielt eine Bekannte von uns Besuch von der Polizei. Die Frau ist Architektin und politisch völlig unauffällig. Tatsächlich hatte der Grund für den Besuch auch nichts mit ihr persönlich, sondern mit ihrem Wohnort zu tun. Sie hat eine Wohnung im teuren Nisantasi und musste sie ihrem großen Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass sie sich damit mitten im so genannten „Nato-Valley“, dem Sicherheitsbereich für den bevorstehenden Gipfel befindet.

Bereits eine Woche vor Beginn des Nato-Gipfels werden in Istanbul die ersten Auswirkungen des bevorstehenden Großereignisses spürbar. Wohl noch nie hat es in der Stadt so massive Sicherheitsvorkehrungen gegeben wie für diesen Nato-Gipfel. Um möglichst viele Einwohner dazu zu bringen, die Stadt zu verlassen, wurden sogar die Sommerferien um einige Tage vorgezogen. Die Polizei ist bereits jetzt überaus nervös. Fast täglich werden Leute festgenommen, die sich in irgendeiner Weise verdächtig gemacht haben. Die Sorge ist riesig, dass islamische Extremisten oder auch die kurdische PKK den Gipfel mit einem Anschlag in der Stadt zur Propagandabühne nutzen könnten.

30.000 Polizisten werden in diesen Tagen in die Stadt gebracht. Ein Teil davon musste in Englischkursen ihre Fremdsprachenkapazität auffrischen, um die Gäste sicher durch die Stadt geleiten zu können. Noch wird das Stadtbild allerdings eher von Nato-Gegnern und Anhängern der Friedensbewegung dominiert, die unter dem Motto „Bush gelme“, was so viel heißt wie „komm nicht, Bush“, diverse Veranstaltungen organisiert haben. Angefangen von Infoständen in der Fußgängerzone bis hin zu einem gut besuchten Friedenskonzert hat ein nicht unerheblicher Teil der Istanbuler klar gemacht, dass für sie der amerikanische Kriegspräsident nicht willkommen ist.

Der mögliche Ankunftstermin von Bush wird aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Mit dem Präsidenten werden mehr als 1.000 Delegationsmitglieder, darunter hunderte eigener Sicherheitsleute, in die Stadt einfallen. Sie bringen insgesamt 12 gepanzerte Limousinen mit, damit Bush nicht zweimal im selben Fahrzeug unterwegs sein muss. Um ihn zu schützen, wird ein großer Teil des Istanbuler Zentrums komplett gesperrt . Anwohner dürfen ihre Wohnung nur noch mit einem Sonderausweis betreten. Wer eine Alternative hat, wird die Stadt wohl tatsächlich verlassen. Doch auch das muss rechtzeitig geschehen, denn während des Gipfels wird der Flugverkehr nur noch eingeschränkt stattfinden. Ursprünglich war auch erwogen worden, den Schiffsverkehr auf dem Bosporus komplett zu sperren. Doch das, befand das Außenministerium, ist wegen der internationalen Verträge nicht möglich. Stattdessen werden nun Kriegsschiffe vor dem Ciragan-Palast, in dem Bush untergebracht sein wird, postiert.

Für die Bewohner der Stadt wird der Nato-Gipfel außer Unannehmlichkeiten nur ein wenig Kosmetik bringen. Die unmittelbare Umgebung der Besuchsziele, die zum touristischen Beiprogramm gehören, werden seit Tagen aufgehübscht. Doch auch das bringt erst einmal nur Lärm rund um die Uhr. Noch ein Grund mehr, sich rechtzeitig davonzumachen.

Unsere Bekannte hat übrigens auch auf den Sonderausweis verzichtet, ihr Büro geschlossen und sich für zwei Wochen außerhalb Istanbuls in Sicherheit gebracht.

JÜRGEN GOTTSCHLICH