mit dem rollstuhl bis nach erkner und zurück : GEREON ASMUTH über Abenteuerurlaub in Berlin
Einmal im Jahr kommt Holger nach Berlin. Manchmal auch zweimal. Und wenn gute Freunde zu Besuch kommen, dann versucht man sich als Gastgeber von der besten Seite zu zeigen. Dann geht es auf die Piste. Auf dem Programm steht Abenteuerurlaub. Hochleistungssport. Denn Holger sitzt im Rollstuhl. Und die geliebte Stadt zeigt ihre Fratze.
Schon die eigene Altbauwohnung wird zum Sperrgebiet. Sie liegt im dritten Stock und ist auf vier Rädern schlicht unerreichbar. Kaum anders zeigen sich die Hotels und Pensionen, die ihre Zimmer gerne als behindertengerecht anpreisen: Badezimmer in Schuhschrankgröße oder mit 20 Zentimeter hohen Stufen, Aufzüge mit Klapptüren, die nicht mehr schließen, wenn der Rollstuhl drinsteht. Und wenn dann doch mal alles perfekt ist, wird das Bad für Rollstuhlfahrer gerade als Abstellkammer genutzt.
Aber Holger nimmt das gerne in Kauf. Denn er liebt Berlin. Vor allem die szenig-lebendigen Altbauviertel in Mitte und Prenzlauer Berg. Zum Glück haben hier alle Kneipen im Sommer Tische draußen. Denn rein kommt er fast nirgendwo. Malerische Stufen versperren den Eingang. Und schon der Weg dorthin präsentiert sich in Rolli-feindlichem Charme. Die Bürgersteige: eine Holpertortur. Die Bordsteine: mit Eiger-Nordwand-Qualität. Und die gelegentlich dann doch mal abgesenkten Trottoir-Kanten: unter Garantie zugeparkt.
Zum Glück hat Holger sich mittlerweile ein Handbike zugelegt. Jenes vor den Rolli gespannt, schafft er es locker nicht nur durch den schrägen Prenzlauer Berg. Selbst eine Radtour am Müggelsee vorbei bis nach Erkner ist kein Problem mehr. Und von dort gibt es eine S-Bahn zurück in die Stadt. Laut Plan ist der S-Bahnhof behindertengerecht. Das stimmt sogar. Ein Aufzug zuckelt hoch zum Bahnsteig. Leider aber fährt die S-Bahn heute nur bis Karlshorst. Ab da gurken ersatzweise Busse. Die wären eventuell zu bewältigen. „Aber dann müssen sie am Ostkreuz umsteigen“, erklärt die sympathische S-Bahn-Mitarbeiterin, „mit Rollstuhl schlicht unmöglich.“
Doch kundenfreundlich, wie man es von der Bahn erwartet, weiß sie einen Ausweg. Vom Nachbargleis fährt ein Regionalexpress – direkt zum Alexanderplatz. Der entsprechende Bahnsteig hat zwar keinen Aufzug. Aber sie lotst uns freundlich direkt über die Gleise. „Im ersten Wagen“, sagt sie noch, „haben die eine Rampe für Rollstühle.“
Theoretisch mag das zwar stimmen. Doch die Praxis sieht anders aus. „Rollstuhlfahrer is nich“, wird Holger vom Zugschaffner begrüßt. Die Rampe? „Hamwa nich dabei.“ Und Reinheben? „Ick fass den nich an, wer zahlt mir dit denn, wenn ick mir den Rücken kaputt mach?“ Die Frage, wer ersatzweise das Taxi zum Alex zahle, bleibt geflissentlich unbeantwortet. Stattdessen lässt er noch reihenweise „iss nich“, „geht nich“ und „machen wa nich“ aus seinem griesgrämigen Gesicht fallen.
Die Fahrgäste sind engagierter. Acht starke Arme, und schon sitzt Holger im Zug. „Jetzt muss ich auch noch am Alex anrufen“, stöhnt der Schaffner. „Wenn se Glück haben, gibt’s da ’ne Rampe“, schnauft er davon.
Am Alexanderplatz warten tatsächlich zwei Bahn-Mitarbeiter mit einem Hubwagen. Ihre erste Sorge gilt jedoch den Prinzipien. „Wieso hast’n den Rollstuhlfahrer reingelassen“, wollen sie wissen. „Da musste in Erkner nachfraren“, grantelt der Schaffner. „Den ham die mir von de S-Bahn rüberjeschickt.“
Später beim Bier glänzt die Reichstagskuppel in der Abendsonne. Eine echte Sehenswürdigkeit, denn sie ist perfekt rollstuhlgerecht. Keine Stufen. Bloß Rampen. So was findet man ansonsten nur noch in Sevilla. Dort verzichteten die Mauren beim Bau ihres Moscheeturms komplett auf Stufen – vor 900 Jahren.