missstände in der pflege: Geborgenheit mit Ausnahmen
Ein Pflegeheim der Oldenburger Hansa-Gruppe in Bremerhaven ist in Verruf geraten, weil die Qualität der Pflege miserabel sei. Die Heimaufsicht des Sozialressorts überprüft das Haus VON FELIX ZIMMERMANN
Die Oldenburger Hansa-Gruppe wirbt mit wohligen Worten für ihre Pflege- und Seniorenheime. Ältere Menschen fänden dort "immer eine erstklassige Adresse", seien in den Hansa-Häusern "geborgen und sicher aufgehoben", allen Heimen sei trotz individueller Architektur eines gemeinsam: Sie böten "die besondere Atmosphäre eines einzigartigen Zuhauses".
Eines der 17 Häuser in Niedersachsen, Bremen, und Nordrhein-Westfalen sticht offenbar besonders heraus - besonders negativ allerdings: Das Pflegeheim am Bürgerpark in Bremerhaven ist in die Kritik geraten, die Hansa-Gruppe sieht sich schweren Vorwürfen hinsichtlich der Qualität der Pflege und der dort herrschenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Artikuliert wurden die Vorwürfe vor Weihnachten vom Betreuungsverein Bremerhaven. Der Verein betreut dort rund 550 Menschen, von denen sich ein Großteil in stationärer Pflege befindet; 20 Personen sind Bewohner des Pflegeheims am Bürgerpark.
In einem Schreiben an die Hansa-Verwaltung kündigte der Geschäftsführer des Betreuungsvereins, Hans-Josef Göers, an, das Pflegeheim wegen "durchweg schlechter Erfahrungen" bei Belegungen mit Pflegebedürftigen nicht mehr zu berücksichtigen. Göers führt "erhebliche Bedenken hinsichtlich der pflegerischen Professionalität und Qualität in Ihrem Haus" an. So berichtet er von einer Bewohnerin, die sich in einem Rollstuhl über eine Stunde vor einem unangerührten Teller mit Mittagessen vor Schmerzen gekrümmt habe, ohne dass ihr jemand zur Hilfe gekommen sei. Auf die Frage, warum kein Arzt gerufen worden sei, sei entgegnet worden, es sei Mittwochnachmittag und kein Arzt mehr erreichbar. Göers führt in dem Schreiben weitere Fälle an und hat viele Anrufe von Angehörigen jetziger und ehemaliger Heimbewohner sowie von früheren Mitarbeitern erhalten, die ihrerseits Missstände schildern.
Göers verweist auch auf "erhebliche Defizite" im Verwaltungsbereich: die Buchführung sei "eine Katastrophe", Zahlungen würden nicht gebucht und Forderungen angemahnt, über die keine Rechnungen ausgestellt worden seien. Nach der Übernahme des Heims von der Stadt Bremerhaven 2002 habe die Hansa vielen langjährigen Mitarbeiterinnen gekündigt, außerdem sei etwa ein Drittel der Belegschaft als Leiharbeiter beschäftigt. Da stelle sich die Frage nach Kontinuität, Fachlichkeit und Vertrauen.
Ein Vorwurf wiegt besonders schwer: Bei der Reinigung der Bekleidung der Heimbewohner kassiere Hansa doppelt: Neben der Abrechnung für die Reinigung als Regelleistung im Rahmen des Pflegesatzes stelle die Heimleitung "ohne Einverständnis der Betroffenen monatlich chemische Reinigungen zusätzlich in Rechnung". Der Betreuungsverein werde erfolgte Zahlungen von weiteren Forderungen abziehen und eventuell auch strafrechtlich gegen diese Praxis vorgehen. Wegen der Vorwürfe ist das Pflegeheim auch ins Visier der Heimaufsicht des Sozialressorts geraten und wird überprüft.
Der Geschäftsführer der Hansa-Gruppe, Matthias Winiarski, sagte gestern, derartige Missstände könne es in ihren Häusern eigentlich nicht geben. Um den Vorwürfen nachzugehen, habe man eine "Task Force" gebildet, die aus 16 Pflegekräften und Pflegedienstleitern bestehe. Sie soll die 130 Bewohner begutachten. Die hohe Zahl von Leiharbeitern begründet er mit dem "sehr, sehr hohen Krankenstand". Das Haus habe auch mit einer Spaltung der Belegschaft in tariflich gebundene und ungebundene Beschäftigte zu kämpfen.
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