merkels wedding : Besuch aus der Parallelgesellschaft
Kommt sie, kommt sie nicht? Fein gewandet in dunkle Anzüge, mit Handys am Ohr und Schlips um den Hals, wartet die lokale CDU-Korona aus dem Wedding auf ihre Angela Merkel. Sie war morgens bei Bush und sollte abends im Berliner Schmuddelbezirk Präsenz zeigen. Aufstieg und Fall an einem Tag.
Tatsächlich, sie kommt. Kaum setzt sie ihren Fuß ins Lichtburgforum, jenes neue Kulturzentrum am Gesundbrunnen, das potente Fürsprecher aus konservativen Kreisen hat, tritt andächtige Stille ein. Als Erstes prüfen die Anwesenden den Gesichtsausdruck der Potentatin in spe: Ist er wirklich so grimmig, wie er auf Fotos meist rüberkommt? Aber Merkel sieht verklärt aus. Die Audienz beim amerikanischen Übervater wirkt nach.
An der Stelle muss geklärt werden, was Merkel im Wedding überhaupt will. Die Frage ist falsch gestellt. Von sich aus will Merkel im Wedding nichts. Bei mindestens 30 Prozent Arbeitslosen und bestimmt 30 Prozent Migranten und ganz sicher 30 Prozent Alkoholikern kann sie sich an den Fingern abzählen, dass sie in Mainz besser aufgehoben ist. Ihr Auftritt ist eine Gefälligkeit an ihre ratlosen Berliner Freunde, die gern an Neoliberalismus und Steuersenkungen und die Erneuerung Deutschlands glauben, nur im Wedding damit nicht weiterkommen.
Denn im Wedding ist eine erweiterte Sicht auf die Dinge gefragt. Das hat zumindest der Münchner Professor Michael Wolffsohn verstanden. Er hat – wider den Rat der Banker – den ganzen Häuserblock in der heruntergekommensten Ecke des Wedding, den er von seinem Großvater erbte, nicht verkauft, sondern ihn in Absprache mit den Bewohnern saniert, nach sozialen und ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten für die Leute gesucht und Kunst und Kultur die Tür geöffnet. Unbenommen der Kritik, die er sich als Sicherheitsfanatiker oft zuzieht, leistet er und die Stiftung Lichtburg, der er vorsteht, erstklassige Kiezarbeit in der Gegend. Ihm und seinen Kontakten zum Geldadel ist es zu verdanken, dass konservative Kreise nun in einem der desolatesten Gegenden Berlins Gemeinwesenarbeit betreiben. Dass das lobenswert ist, hat selbst die CDU eingesehen. Damit hängt zusammen, dass Merkel erscheint.
Natürlich werden bei dem Event nur lobende Worte über den Bezirk gemacht. Selbst der für den Kiez zuständige Bürgermeister Joachim Zeller – dem harte Sätze über den Wedding gern über die Lippen kommen – übt sich in Versöhnung: „Der Wedding ist nicht schlecht, hier lässt es sich leben.“ Später wird er gar behaupten, er hätte den Wedding nie heruntergeredet, sei nur falsch wiedergegeben worden, aber seine Vorgänger hätten für den Bezirk nichts gemacht.
Zeller – der Saulus-Paulus-Pfiffikus – nimmt hier so viel Raum ein, weil die Rede von Merkel nichts mit dem Wedding zu tun hat. Eloquent verspricht sie dagegen die Zukunft von gestern: Dass sie „Frieden in Freiheit“ will, wie es schon auf alten Wahlplakaten steht. Dass wir von innen her bedroht seien und dass beim Terrorismus die Mechanismen des Kalten Krieges nicht mehr funktionierten, „was große Diskussionen ins Völkerrecht hineinträgt“. Dass fünf Millionen Arbeitslose eine Last seien, die die Regierung zu verantworten habe. Denn sie blockiere die einzige Ressource, die Deutschland noch hat, Wissenschaft und Forschung, indem sie Atomkraft nicht will und auch keine grüne Gentechnik, sondern das Dosenpfand.
Wie für Merkel danach die Zeit um ist, ist hier der Platz zu Ende. Deshalb werden ihre Rezepte zur Erneuerung Deutschlands ein anderes Mal aufgezählt. Nur Zeller soll noch einmal zu Wort kommen: „Der Wedding ist ein Laboratorium“, sagt er und schickt seinem Satz einen grimmigen Blick hinterher. WALTRAUD SCHWAB