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Archiv-Artikel

meine werte (8) Hedonismus für immer

Bei „Werte“ fällt mir ein: Was ist eigentlich aus dem guten alten Hedonismus geworden? Untergegangen im Getöse um die neue Spießigkeit, in der von oben kommenden Anmahnung, doch wieder verstärkter am Volkskörper zu bauen, also mehr Kinder zu zeugen? Abgeschoben und aufgesaugt von leidenswilligen Neoliberalen, die sich plötzlich als „last of the famous international playboys“ (Morrissey) gerieren können? Wenn man den medialen Dorfzirkus nur ernst genug nimmt, kann einem schon schlecht werden so als Hedonist. Vielleicht sollte man wieder zu klassisch linken Werten zurückkehren – zum Kampf gegen Staat, Kirche, Familie zum Beispiel. Nicht wählen gehen, religiöse Gefühle verletzen und eine Neuauflage des Heidelberger Gebärstreiks heraufbeschwören. Wäre das nichts?

Schließlich kann man den Hedonismus, also den Versuch, nach dem Lustprinzip zu leben und allen Genüssen zuzusagen, nicht dem rheinischen Karneval überlassen. Sicher lieben die Menschen am Rhein das Leben, die Liebe und die Lust, dafür aber eben auch dünnes Bier, debile Schunkelmusik und dumme Kostümierungen. Und das alles auch nur innerhalb eines kalendarisch fixen Rahmens – was aber ein richtiger Hedonismus ist, der muss ständig am Start sein. Und nicht nur im Alter zwischen 18 und 30 stattfinden, bis es Zeit ist, wie hypnotisiert den eigenen „biologischen Uhren“ zu gehorchen und Nester zu bauen, aus denen doch nur wieder … Ach, lassen wir das, ihr wisst schon.

Hedonismus ist nicht zeitgebunden, eine Tatsache, die auch Zeitgeistmagazine wie die Berliner Stadthalbmonatszeitschrift Zitty anerkennen (aktuelle Ausgabe: die Vorteile des Singledaseins. Vielleicht bestünde die Heilung der Single-Leiden in einer allumfassenden Ungebundenheit! Nie wieder Beziehung! Mindestens haltbar bis zum nächsten Verliebtsein). Hedonismus ist ungefähr das: „dauernde Ferien, nie arbeiten, Verantwortung ist für Arschlöcher, die daran glauben“ (Diederichsen in der Ex-Bibel „Freiheit macht arm“) plus des schlauen Umgangs mit Räuschen sämtlicher Couleur: Musik, Film, Theater, Poesie … oder für die Stabileren die Ersatzpräparate in Tabletten-, Pulver- oder Liquidform. Von der Liebe sprechen wir ab sofort nicht mehr. Hedonisten scheuen das Tageslicht, den Schmerz und die schlechte Laune: „Es gibt kein Weinen im Geheimen“, wie es der geschätzte Ambros Waibel kürzlich in der Jungle World formulierte.

Doch die beste aller Nachrichten aus dem Jenseits des Realitätsprinzips ist: Dem Hedonismus gehört in Zeiten des schrumpfenden Arbeitsmarkts die Zukunft. Ja, sie wird kommen, die Zeit des Zwangsfreizeitvergnügens. Und auch wenn ich oft traurig bin, unter Rückenschmerzen leide und schließlich auch nicht jünger werde – auf diese Zeit freue ich mich. RENÉ HAMANN