medienmalaise : Die Musterknaben
Es gibt ein viel sagendes Foto vom Oktober 2002: Steve Case frohlockt bei der Vorstellung einer neuen AOL Software, das All-American-Boy-Grinsen auf den Lippen, die linke Hand zu einem schon etwas schlaffen Victory-Zeichen erhoben. Vor ihm steht ein älterer Mann mit verkniffenem Gesichtsausdruck: Ted Turner, Erfinder von CNN und heute eigentlich bedeutungsloser Vize-Chairman des größten Medienkonzerns der Welt. Er hatte damals bereits seit einem Monat die Entlassung von Case gefordert, seit Sonntag ist der längst Entmachtete nun um eine Genugtuung reicher.
Bei AOL-Time-Warner sind jetzt wieder die „alten Hasen“ an der Macht, die das klassische Mediengeschäft aus Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen und Filmen, Musik und Magazinen beherrschen und sich 2000 an den Newcomer America Online und seinen Mitgründer Case verkaufen mussten. Dass sie in der gegenwärtigen Krisensituation nicht wirklich erfolgreich agieren, von der anhaltenden Schwindsucht der Werbemärkte ebenso überrascht wurden, spielt keine Rolle: Der Vertrauens- und damit der Aktienkurs-Schwund in Sachen Online wiegt schwerer.
Nach seinem Abschied im Mai kann Case immerhin mit einem Leidensgenossen aus Deutschland auf Jobsuche gehen: Thomas Middelhoff ist nach seiner Entpflichtung als Bertelsmann-Boss ebenfalls noch frei. Und auch beim größten deutschen Medienkonzern aus Gütersloh regieren wieder die Buchdrucker.
Überhaupt war die Karriere von Case und Middelhoff eng verzahnt: Middelhoff glaubte an Case und dessen Onlinevisionen. Stieg früh bei dessen transatlantischem Ableger AOL Europe ein. Und erzielte mit dem nach der Fusion von AOL mit dem Bertelsmann-Konkurrenten Time-Warner notwendigen Verkauf der Anteile einen der größten Reingewinne der Unternehmensgeschichte.
Genützt hat es ihm wenig: Völlig überrasschend wurde er im Sommer auf Betreiben der einflussreichen Eigentümerfamilie Mohn in die Wüste geschickt. Seine Vision eines ins Internet expanierenden Weltkonzerns und seine Pläne, die bislang in einer Familienstiftung organisierte Bertelsmann AG zügig an die Börse zu bringen, gingen den bodenständigen Managern im Ostwestfälischen entscheiden zu weit.
Middelhoffs erster Reflex nach dem Rausschmiss galt wieder AOL: Noch im September 2002 sprach er in den USA bei seinem Freund Steve Case vor. Doch da war auch bei AOL schon Katerstimmung. Der Traum von einer Zusammenarbeit der beiden „größten Evangelisten des Dotcom-Zeitalters“ (Guardian) blieb unerfüllt.
Die alten Medien sollten ihre wiedergewonnene Oberhand allerdings besser sofort genießen: Sie wird nicht von Dauer sein. Selbst wenn Time-Warner-Manager jetzt mit kühner Brust erwägen, die drei Buchstaben AOL aus dem Firmennamen zu tilgen.
Die Zukunft ist online. Dass man mit diesem neuen Medium noch kaum wirklich zurechtkommt, hat gute Tradition: Es dauert, bis sich Neues gegen die alten Medien durchsetzt und diese zwar nicht verdrängt, aber in neue Zusammenhänge stellt. Steve Case und Thomas Middelhoff sind in diesem Prozess die Musterknaben einer neuen Zeit.
STEFFEN GRIMBERG