lidokino : So viel Fortune, so viel überzeugende Resultate, so viel Zuspruch
Cristina Nord ist in Venedig, wo Regisseure aus dem Tschad und Indonesien in ihren Filmen Mozart aufs Wunderbarste weitersingen
Nina Proll trägt ein Kleid von einem so intensiven Blau, dass ich beim Hinschauen glaube, die Sinneswahrnehmung erweiternde Drogen genommen zu haben. Dabei trinke ich nur Gin Tonic. Gefeiert wird der österreichische Wettbewerbsbeitrag „Fallen“, die DJ spielt Stücke, die ich mit 17, 18 mochte und heute wieder mag: David Bowie, The Clash. Es ist weit nach Mitternacht, als sich Simon Field zu uns gesellt. Field hatte das Rotterdamer Filmfest geleitet, bevor er für die Wiener Festwochen und das Festival New Crowned Hope tätig wurde. Als Kurator und als Koproduzent hat er am Entstehen von sieben Filmen mitgewirkt, die sich lose auf das späte Werk Mozarts wie „Zauberflöte“, „Requiem“ und „La clemenza di Tito“ beziehen (siehe taz vom 1. September). Fünf davon sind in Venedig zu sehen. Jetzt strahlt Simon Field: „It is amazing.“ So viel Fortune, so viele überzeugende Resultate, so viel Zuspruch seitens der Kritiker – das ist in der Tat beeindruckend.
Denn je länger die Biennale dauert, umso deutlicher zeichnet sich ab, dass die im Rahmen von New Crowned Hope entstandenen Filme maßgeblich zum Gelingen des Festivals beitragen. Einen eher konventionellen Wettbewerbsbeitrag wie „Bobbie“ von Emilio Estevez vergesse ich rasch, selbst wenn er am Tag der Ermordung Robert Kennedys spielt und mit dem Etikett „based on a true story“ für sich wirbt – ein Etikett, das in diesem Jahr am Lido en vogue ist. Ein Film wie „Daratt“ („Dry Season“) hingegen prägt sich mir ein, denn er hat in seiner Kargheit, in seiner Klarheit eine Wucht, die die vielen Erzählstränge von „Bobbie“ verfehlen. Die Produktion aus dem Tschad (die Regie führte Mahamat-Saleh Haroun) handelt von Atim, einem jungen Mann, dessen Vater im Bürgerkrieg umgebracht wurde. Nachdem eine Generalamnestie erlassen worden ist, macht sich Atim auf, den Tod des Vaters zu rächen. Doch die Beziehung, die Atim zu Nassara, dem Mörder, entwickelt, ist zu komplex, als dass eine Pistole Klarheit schaffen könnte. Mit reduzierten, der Ellipse zuneigenden Sequenzen evoziert Haroun einen Kreislauf aus Gewalt und ungesühnter Schuld, einen Kreislauf, der keinen Ausweg zu kennen scheint. Am Ende jedoch gelangt der Film zu einer der überraschendsten Auflösungen, die ich seit langem gesehen habe: In ein und derselben Geste stecken sowohl Rache als auch Versöhnung.
Von ähnlicher Wucht ist „Opera Jawa“, ein ebenfalls im Rahmen von New Crowned Hope produzierter Film des indonesischen Regisseurs Garin Nugroho. „Opera Jawa“ mag zunächst unzugänglicher wirken als „Daratt“, zieht aber, je klarer sich die Konfliktlinien herausschälen, umso stärker in den Bann. Der durchgängig gesungene Film vermengt verschiedene Erzähl- und Kunstformen: die Gamelan-Oper, traditionelle javanesische Gesänge und javanesischen Tanz, zeitgenössische Choreografien, dazu Rauminstallationen, die einer Documenta oder einer Kunstbiennale würdig wären (tatsächlich stellten an der Filmproduktion beteiligte Künstler schon in Venedig aus). Ein gehäuteter Bulle hängt im Raum, auf dem Boden stehen Puppenköpfe in Tellern, manche davon sind aus rotem Wachs, der Docht brennt herunter, ein Tänzer kreist um den Kopf des Bullen.
Im Zentrum von „Opera Jawa“ steht eine Dreiecksgeschichte, die auf eine Episode aus dem Ramayana-Epos zurückgreift. Siti gerät zwischen zwei Männer, den Töpfer Setio, mit dem sie verheiratet ist, und den Händler Ludiro, der sie zu entführen sucht. Doch der Film macht bei dieser Konstellation nicht Halt, er bettet sie in einen Rahmen von Gewalt, Rebellion und Protest. Weiße Stoffpuppen hängen von den Bäumen am Wegesrand, zerschlagene Tonfiguren brennen auf verwüstetem Terrain. Beeindruckend ist der Illusionseffekt, der in solchen Aufnahmen steckt. Man sieht zwar nichts weiter als brennenden Ton, doch die realistischen Gegenstücke dieser Bilder ziehen vor dem inneren Auge wie von selbst vorbei. Ein ähnlicher Effekt tritt ein, sobald Masken zum Einsatz kommen. Die Darsteller bewegen sich auf allen vieren, eine Maske auf dem Kopf, die sie in einen Hund oder ein Raubtier verwandelt. Man erkennt den Darsteller noch als Menschen, sieht aber zugleich den Hund. Aus dieser Gleichzeitigkeit resultiert ein Schillern, das Mozart wirklich weiterdenkt und den herkömmlichen Kinorealismus so wirksam überbietet, dass sich die Vorstellungskraft mit nichts anderem mehr zufriedengeben will. CRISTINA NORD