piwik no script img

Archiv-Artikel

lang lebe lord lucan von RALF SOTSCHECK

Vielleicht lebt er ja noch. Seine Frau ist sich allerdings seit 29 Jahren sicher, dass er in der Hölle schmort. 1999 hat man Lord Lucan offiziell für tot erklärt. Die Medien ficht das freilich nicht an, seit 1974 geistert der adlige Müßiggänger durch die britischen Gazetten. Damals wurde das Kindermädchen Sandra Rivett im Haus von Lucans getrennt lebender Ehefrau im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia mit einem Bleirohr erschlagen. Lady Lucan war dem Mörder knapp entkommen. Sie sagte aus, dass es ihr Mann war, der sie in der Dunkelheit mit dem Kindermädchen verwechselt und die Falsche erschlagen hatte.

Kurz darauf fand man Lucans Auto am Strand in der Nähe von Brighton. Im Kofferraum lag das Bleirohr. Lucan hatte in Briefen an Freunde geschrieben, dass ihm seine Frau den Mord anhängen werde und er deshalb für eine Weile verschwinden müsse. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen, wenn man einmal von den Menschen absieht, die ihn in Afrika, Australien und Amerika entdeckt haben wollen.

Der 7. Graf Lucan aß nichts außer Lammkoteletts, weil ihn andere Nahrungsmittel ebenso anekelten, wie es Menschen niedrigeren Standes taten. Er hatte den Titel und das Familienvermögen von seinem Vater geerbt. Eine Viertelmillion Pfund war in den Sechzigerjahren viel Geld. Lucan verspielte es im Casino.

Nun ist mal wieder ein Buch über ihn erschienen. Der Autor Duncan MacLoughlin behauptet, Lucan habe in Goa ein geruhsames Leben geführt und sei 1996 friedlich verstorben. Damit sei einer der mysteriösesten Fälle der englischen Kriminalgeschichte aufgeklärt, brüstet sich der Autor, und auf dem Gebiet sollte er sich eigentlich auskennen: Er war früher Polizist bei Scotland Yard, wurde aber vom Dienst suspendiert, weil er einen Vorgesetzten wegen irgendeiner Sexgeschichte angezeigt hatte.

MacLoughlin glaubte, den verschwundenen Lord auf einem in Goa aufgenommenen Foto erkannt zu haben: die Frisur, die charakteristischen Augenbrauen und der Bart – Lucan! Außerdem ergab eine Kurzrecherche, dass der Mann kurz nach Lucans Verschwinden in Goa aufgetaucht sei und eine Vorliebe für Lammkoteletts an den Tag gelegt habe. Daraus zog MacLaughlin den waghalsigen Schluss, dass es sich um den verschwundenen Lord handeln musste – und schrieb ein Buch darüber.

Kaum hatte der Sunday Telegraph einen Vorabdruck und ein paar Fotos veröffentlicht, meldeten sich Dutzende zu Wort. MacLaughlins Lucan sei in Wahrheit der trunksüchtige Folksänger Barry Halpin, der in den Sechzigern in den nordenglischen Clubs eine Lokalgröße war und seine Freunde charmant mit „alter Schwanz“ anredete, weil er sich alkoholbedingt ihre Namen nicht merken konnte. Selten wurde ein Buch so geschwind zu Makulatur.

Seinen Sessel im Oberhaus hat man Lord Lucan bis heute freigehalten. Sollte er dort jedoch auftauchen, würde die verschnarchte Bagage vermutlich einen kollektiven Herzanfall erleiden, und Tony Blairs Probleme mit der Reform des House of Lords wären gelöst.