kritik der woche : Starke Kulturdokumente als Anschlag an den Litfaßsäulen
Höheren Ansprüchen erteilte der Plakatkünstler Julius Klinger schon 1912 eine klare Absage. Werbung könne „keine Ewigkeitswerte“ schaffen, da sie „naturgemäß der Mode des Tages unterworfen“ sei. Trotzdem schloss er nicht aus, „dass unsere Arbeiten vielleicht einst in 50 oder 100 Jahren starke Kulturdokumente sein werden.“
Klinger war ein guter Prophet: im Osnabrücker Museum für Industriekultur ist gerade in einer Ausstellung zu sehen, dass Plakate nicht nur Geschichten, sondern auch Geschichte erzählen können. 150 Jahre, nachdem Ernst Litfaß in Berlin die ersten „Plakatanschlagssäulen“ aufstellte, lässt die Ausstellung die Vielfalt öffentlicher Werbung Revue passieren. Auf rund 100 Exponaten wird für Anthrazit-Kohle aus dem Osnabrücker Piesberg geworben oder für „Ratty-Batty – die idealste Cigarette der Welt“, für Rotkäppchensekt, Persil-Waschmittel und echte Nachkriegs-Coca-Cola.
Neben der Warenwelt wird in Osnabrück erfreulicherweise auch der Gebrauch öffentlicher Werbeflächen für politische Propagandafeldzüge dokumentiert. Er beginnt im Ersten Weltkrieg mit dem Aufruf zu Kriegsanleihen und führt über die im Wortsinne plakativen Auseinandersetzungen extremistischer Parteien in der Weimarer Republik direkt zu den nationalsozialistischen Hetzkampagnen.
Darüber hinaus wird in der Ausstellung der ästhetische Wandel aufgezeigt, der unter dem ökonomischen Druck der modernen Industriegesellschaft von kunstsinnigen Gemütern zuerst hinausgezögert werden konnte, letztlich aber nicht mehr zu vermeiden war. Während im 19. Jahrhundert auf den Litfaßsäulen noch komplette Bildergeschichten zu sehen waren, verlegte sich die Moderne immer mehr auf Sachplakate, um die wichtigsten Kennzeichen der Marken so konzentriert wie möglich in Szene zu setzen.
Die Vorliebe für Frauen scheint jedoch allen Werbeschaffenden gemein zu sein, wenn nur gängige Klischees bedient werden. Auf Litfaßsäulen üben die Männer- und Kundenfantasien als Sexsymbol und Vamp, Heimchen am Herd oder Mutter der Nation seit je ihren Auftritt in der Realität. Für die meisten Plakatfrauen hat es die Emanzipation nie gegeben. Ist zu befürchten, dass die bunten Bilder auch hier ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit abbilden. Thorsten Stegemann
„Rundum Neuigkeiten. 150 Jahre Litfaßsäule“ bis 14. August im Museum Industriekultur Osnabrück, Fürstenauer Weg