kommentar : Wahlen in Frankreich – Trend in Europa: Es geht nicht mehr um rechts oder links
Mit einer knappen Sentenz wusste SPD-Chef Müntefering vor wenigen Tagen seine Parteigenossen zu begeistern: „Opposition ist Mist.“ Wirklich? Quer durch Europa sieht es eher so aus, als sei Regieren Mist. Gerade haben die französischen Wähler Chirac so richtig abgewatscht, und anderswo in den großen Ländern verheißen die Umfragen für die Regierenden ganz ähnliche Trends.
Schröder und Müntefering würden sich sogar über demoskopische Werte von 28 Prozent ein klein wenig freuen. Tony Blair bläst der Wind ins Gesicht, obwohl die Opposition in England kaum ernst zu nehmen ist. Und selbst Silvio Berlusconi, der die Medien in Italien fest im Griff hat, nützt die Schönfärberei nichts: Seine Koalition ist hinter die Oppositionsparteien zurückgefallen, Forza Italia hat in der Wählergunst satte 8 Prozent abgegeben.
Offenkundig ist: Es geht nicht um Rechts- oder Linkstrends. Wer gerade am Ruder ist, bezieht die Prügel – weil die Regierenden quer durch die Lager das gleiche Programm haben: Sie wollen mit Reformen, sprich mit Kürzungen bei Renten und Gesundheit, mit Eingriffen in Tarifautonomie und Kündigungsschutz ihre Länder „fit machen“ für den globalen Wettbewerb. Den Preis zahlen erst die Wähler – aber bei den nächsten Wahlen ist Zahltag für die Politiker: Mit grimmiger Begeisterung strömen die Bürger in die Wahllokale; gegen alle Beschwörungen wachsender politischer Apathie stieg jetzt etwa in Frankreich die Wahlbeteiligung.
Doch diese Wählerreaktion ist ebenso entschieden wie hilflos: Angela Merkel in Deutschland, Dominic Strauss-Kahn in Frankreich oder Romani Prodi in Italien „versprechen“ ja kaum etwas anderes als die derzeitigen Regierungschefs. Sicher ist: Das Reformieren wird weitergehen. Sicher ist aber auch: Die Verfallszeit der Regierungen ist dabei, sich drastisch zu reduzieren. Westeuropas große Staaten sind auf dem Weg in osteuropäische Verhältnisse. Dort schicken Wähler, die keine Jahrzehnte alten ideologischen Bindungen besitzen, bei fast allen Wahlen die gerade Herrschenden in die Wüste.
Dieser schnelle Wechsel alleine wäre noch kein Schreckensszenario für die großen Parteien. Doch es kann noch ungemütlicher kommen – wenn die Wähler erst einmal erkennen, dass sie Wechsel ohne Wandel produzieren, ja etwa mit Merkel die viel härtere „Reform“-Variante ins Amt hieven. Und wenn sie dann beginnen, sich nach ganz neuen politischen Angeboten umzuschauen. MICHAEL BRAUN
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