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Archiv-Artikel

kommentar Keine Lust mehr auf Einwanderer. Anmerkungen zu einer maßlosen Debatte

Was ist passiert? Hat sich ein Fundamentalist vor dem Reichstag in die Luft gesprengt? Ist ein deutscher Islamkritiker in Berlin-Kreuzberg ermordet worden?

Wenn man derzeit Zeitung liest oder Fernsehen schaut, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Hier wird mit Donnerworten das Ende der multikulturellen Gesellschaft verordnet, dort erklärt Henryk M. Broder in der ZDF-Sendung „Berlin Mitte“ unter tosendem Applaus, dass „der Islam“ mit einer zivilisierten Religion wie dem Christentum „inkompatibel“ ist. Offenbar bricht sich ein lang im Zaum gehaltenes Gefühl der deutschen Mehrheitsgesellschaft Bahn. Man hat keine Lust mehr auf die Einwanderer. Man war wirklich lange genug nett zu diesen Leuten. Multikulti ist irgendwie lästig. Jetzt traut man sich, es zu sagen. Warum jetzt?

Der Mord an Theo van Gogh ist nicht der Grund, nur der Auslöser. Diese Debatte ist hysterieanfällig, weil sie so virtuell ist, weil sie eigentlich keinen richtigen Anlass hat. Berlin-Neukölln, folgt man manchen Darstellungen, scheint viel, viel schlimmer zu sein als die Bronx der 70er. Das ist die Botschaft. Es ist alles ganz schlimm, lange wollten wir es nicht wahrhaben, aber damit ist jetzt Schluss. Dass in dieser Republik vieles besser funktioniert als in den Pariser Banlieues, als in England, wo es blutige, rassistische Straßenschlachten gab, fällt unter den Tisch. Die Debatte hat kein Maß, sie lebt von Affekten. Der einzige Gewaltakt der letzten Tage war ein Brandanschlag auf eine Moschee in Süddeutschland. Aber das passt nicht in das Selbstbild vieler Deutscher, die sich nun als überforderte Opfer der Migranten fühlen.

Bemerkenswert ist, wie sehr all dies im luftleeren Raum spielt. Als islamistische Terroristen 2002 in Djerba deutsche Touristen ermordeten, nahm man das hier seltsam achselzuckend hin. Nun scheint man etwas nachholen zu wollen. Egal, dass dabei viel durcheinander geht.

Morgen werden in Köln Muslime gegen Gewalt und Terror demonstrieren. Das ist gut und richtig – auch wenn man sich diese Demo weniger staatstragend und zivilgesellschaftlicher gewünscht hätte. Reden wird dort auch Günther Beckstein. Sagen wird er, dass der „größte Teil der Muslime in Deutschland friedlich ist“. Das klingt ein wenig nach „Muslime sind auch Menschen“. Fällt das noch jemand auf? STEFAN REINECKE