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Archiv-Artikel

kleine schillerkunde (11) Schmerzensmänner

„Schwere Stunde“: Wie Thomas Mann Schiller porträtierte und dabei auch gleich sich selbst

Dem Mann geht es nicht gut. Mit hängendem Kopf wandert er weit nach Mitternacht in seiner kalten, kahlen Schreibstube herum, ein hartnäckiger Schnupfen plagt ihn, und auch das nasskalte, windige Wetter bereitet ihm Verdruss. Noch mehr aber bedrückt den Mann, dass es mit der Arbeit nicht vorangeht, dass er seinem sich schleppenden, stockenden Schreibwerk geflohen ist, „dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war“.

Der Mann, von dem die Rede ist, wie soll es in einer Schillerkunde anders sein, ist Friedrich Schiller. Doch der, der ihn derart porträtiert, und das, ohne ihn beim Namen zu nennen, ist Thomas Mann, der 1905 vom „Simplicissimus“ gefragt wurde, ob er nicht was zu Schillers 100. Todestag schreiben könne. Mann sagte mit Freuden zu und verfasste „Schwere Stunde“, eine kurze Erzählung, die man gleichermaßen als Schiller-Porträt und Thomas-Mann-Selbstporträt lesen kann.

Schiller ist 37 Jahre alt und hadert mit den Ausschweifungen seiner jungen Jahre, ja, er fühlt sich am Ende. Nun sitzt er da in seiner Wohnung in Jena, müht sich mit dem „Wallenstein“ und glaubt, „die Anlage war falsch, und die Sprache war falsch“. Auch von Lotte und den Kindern ist die Rede, von Körner, dem Freund und Förderer, und von Goethe, dem großen Konkurrenten in Weimar, dem Quell ewiger Eifersucht, „den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte“.

Wichtige Eckpfeiler aus Schillers Leben also stehen, doch im Zentrum steht in „Schwere Stunde“ der nächtliche Kampf des Künstlers mit seinem Stoff, der Kampf um die Form, der Wille zum Schweren, der Glauben an den Schmerz, das Talent und den Zusammenhang von beiden: „Das Talent selbst – war es nicht Schmerz?“ Und, ein paar Zeilen weiter, da ist das Talent „nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert“.

Es fällt leicht, hier viel von Mann selbst herauszulesen und dass der 1905 35 Jahre alte Mann nicht zufällig den gereiften, fast gleichaltrigen Schiller als Helden auserkoren hat. Schiller ist sein Vorbild, doch er übt sich auch darin, auf Augenhöhe zu gehen. Da passt es selbst, dass er Schiller sich einmal fälschlich fragen lässt: „Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen Brust?“, obwohl selbst Schiller viele Stoffe, Motive und Themen von anderen übernahm und in seinen Dramen verwob – auch Mann montiert mit „Schwere Stunde“ erstmals einen Text vorwiegend aus Quellen. Was ihm dann fünfzig Jahre später, als er seinen „Versuch über Schiller“ macht, auch viel Verdruss bereitet. Einem Vertrauten in der Schweiz gegenüber vermisst er „Neuheit auf Schritt und Tritt. Man kann dem längst Gesagten nur etwas persönliche Erfahrung und Farbe mitgeben.“

Das aber macht Mann schon in „Schwere Stunde“, wo er sein Pathos gegen das von Schiller stellt, seinen Idealismus gegen den Schillers, wo er überhaupt seinen ureigenen Kampf mit dem Schreiben darstellt, sein Künstlertum, seinen Willen, die Kunst über alles und in den Dienst von etwas Hohem zu stellen, so diffus dieses Hohe sein mag, und sich „uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern“. Bei all dem inzwischen fragwürdigen Kult um dieses Hohe, Große, bei all dem Pathos fällt aber selbst heute noch einiges an Lehrreichem und Déjà-vu-Effekten an: Wie gut es ist, Übersicht über das Geschriebene zu gewinnen, wenn man sich räumlich davon distanziert; wie wichtig Form und Begrenzung sind; und dass es eben nie „sprudeln“ muss! Nur muss man die, bei denen es sprudelt, nicht gleich, wie Mann es tut, als „Stümper und Dilettanten“ bezeichnen, als „Schnellzufriedene und Unwissende“. Was dann aber auch wieder einem Zweck diente: Der Germanist Helmut Koopmann sieht darin vor allem eine „Volte“ von Thomas gegenüber Heinrich Mann.

Im Verlauf der Leidensnacht ging es trotzdem weiter, die Schreibblockade und all der andere Unbill – die Kälte, die Schmerzen, das Kräftemessen mit Goethe – hatten ihren tieferen Sinn, galten sie doch in erster Linie der künstlerischen Selbstvergewisserung. Aus der schweren Stunde war eine Stunde des Trostes geworden, des Trostes darüber, auf dem richtigen Weg zu sein.

GERRIT BARTELS