juttas neue welt: Es bleibt immer etwas hängen
Gelgentlich verschluckt der Erdboden meinen Freund Steffen. Bis er ihn wieder ausspuckt, können einige Tage vergehen. Dann steht Steffen wieder freundlich lächelnd vor meiner Haustür und tut so, als hätte ich mir ganz umsonst Sorgen um ihn gemacht. Neulich hatte er sich wieder mal aus meinem Leben ausgeloggt und war unerreichbar. Am vierten Tag nach seinem Verschwinden machte ich mich auf den Weg, um bei ihm anzuklingeln. Mit einem schlichten „Ach, du bist’s!“, begrüßte er mich mittelhoch erfreut. Und warf schnell einen wirren Blick auf seinen Computer, der im Hintergrund des Zimmers flimmerte.
Steffen stammelte etwas von „Kaffee oder Kuchen“ und „wenn du willst, auch ein Bier“ und sprang mit einem großem Satz vor seinen PC. Fast hätte er ihn schützend in die Arme genommen. Was mich zuerst in Erstaunen versetzte, sollte mich gleich nicht mehr wundern. Denn hinter dem nervös rumhampelnden Steffen erspähte ich den Schriftzug „Lolita-Cam“ auf dem Bildschirm. Und plötzlich war mir alles klar: sein tagelanges Schweigen, sein verschrecktes Verhalten und dass er mir zum ersten Mal Kaffee und Kuchen angeboten hatte. Steffen hat sich mal wieder im Cyberspace verloren – und ist bei der lüsternen Lolita hängen geblieben. Steffen ein Netzpäderast? Ich wollte gehen. „Ich kann dir alles erklären“, rief er mir hinterher und hüpfte so raumeinnehmend vor die Haustür wie gerade eben vor den Computer. „Jaja, musst du gar nicht“, erwiderte ich. „Mach doch, was du willst.“ Aber Steffen blieb stur: Er werde Lolita einfach nicht mehr los, sagte er und zerrte mich zurück vor seinen Rechner. „Jedes Mal, wenn ich meinen Internet-Browser öffne, legt sie sich von selbst unten hin.“ Ich schaute ihn an: „Zweifellos erstaunlich.“ Seit vier Tagen versuche er, dieses Lolita-Etwas von seiner Festplatte zu löschen. „Kannst du mir helfen?“
Eigentlich hatte ich gute Lust, Steffen weiter auf seiner Lilalaune-Lolita schmoren zu lassen. Doch ich empfand Mitleid, schließlich hatte er seit vier Tagen keine frische Luft mehr geschnappt – und zugegebenermaßen empfand ich plötzlich eine gewisse Genugtuung. Der Sieg des leibhaftig Guten über das virtuelle Böse bahnte sich an. Doch ich hatte mich zu früh gefreut: Die Lolita-Cam entpuppte sich als hartnäckiges Werbebanner, das sich allen Löschversuchen widersetzte. Ich tilgte Steffens Favoriten sowie seine temporären Internetdatein und durchforstete sämtliche Ordner nach minderjährigen Frauen. Doch vergebens: Lolita war nicht totzukriegen. Steffen lag mittlerweile auf der Couch und schlief, während ich mich mit seiner Cybergeliebten abrackerte. Schließlich gab ich es auf. Vermutlich hatte sich ein Active-X-Steuerelement in seine Festplatte gefressen – ein parasitäres kleines Programm, das sich – ohne dass es der Surfer merkt – auf den Rechner lädt und bei jedem Neustart des Computers in Gang gesetzt wird. Nur muss Steffen dazu eine Seite besucht haben, von der die X-aktive Lolita auf seinen PC hüpfen konnte. Was er natürlich standhaft leugnete, als ich ihn weckte und ihm meinen Verdacht schilderte. „Ich war noch nie auf so einer Lolita-Seite“, behauptete er. Hmhm.
Für alle, die ebenso ohne ihr Wissen auf sexy Seiten surfen und plötzlich unter Loli-Pop-ups leiden, hat Steffen zum Erfahrungstausch eine neue E-Mail-Adresse eingerichtet: Zuschriften bitte an steffens_lolita@gmx.de. JUTTA HEESS
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