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Archiv-Artikel

jenni zylka über Sex & Lügen Wenn Bären zu viel trinken

Karneval ist schrecklich – Berlin ist zum Glück immer noch narrensicher

Stell dir vor, es ist Karneval und du musst hin. Huach. Als Berlinerin, wenn auch als niedersächsischstämmige, habe ich eine angemessene Oppositionshaltung gegenüber der idiotischen Jahreszeit entwickelt, schließlich muss man in dieser Stadt mit Prügel rechnen, wenn man verkleidet auf die Straße geht und älter ist als zwölf.

Nicht, dass ich mich nicht prinzipiell gerne in Schale schmeiße. Wenn ich nicht immer die Einzige wäre, die es wörtlich nimmt, würde ich bei jeder Mottoparty mitmachen, ob „Gothic“ oder „Nights in White Satin“. Auch ziehe ich eigentlich gerne in betrunkenen und marodierenden Horden durch die Straßen, das erinnert mich immer an meine Jugend in der Kleinstadt. Aber heutzutage schmücke ich mich höchstens ein wenig standardtanzmäßig und verfrachte die Pracht später in einem Taxi nach Hause. Denn die Vorstellung, in vollem Ornament an einem U-Bahnhof herumzuschwanken, macht mir Angst. Als ich neulich im Fernsehen die karnevalistisch aufgeputzten WestfälInnen an den Gleisen stehen sah, die vom Bahnstreik betroffen waren, konnte ich gar nicht hingucken.

Allerdings habe ich eine Berliner Pflanzenfreundin, die etwas aus der Art geschlagen ist und extra zu diesem Schmu nach Köln fährt. Normalerweise pflegt sie mich irgendwann am Karnevalswochenende oder Rosenmontag per Handy anzurufen und mir zu erzählen, was sie erlebt. Vor zwei Jahren hatte ich eine fünfminütige, lakonisch vorgetragene und mit Alaaf untermalte Nachricht auf meiner Mobilbox: „Ick steh jerade unterhalb vom Dom. Jetzt läuft ’ne BSE-Kuh vorbei. Da kommt noch eene. Und jetzt läuft ’n Schlachter hinterher.“ Aber eigentlich fährt sie dorthin, weil sie so gerne küsst. Wenn ich sie frage, wie sie das durchsteht mit all den Deppen, die man Narren nennt, sagt sie: „Menno, so viel wie da knutsch ick sonst nie!“

Die Verkleidungen, in die man heutzutage schlüpft, unterscheiden sich etwas von denen meiner Kindheit (Cowboy, Chinese, Zigeunerin beziehungsweise Sinti/Roma): In diesem Jahr wollte meine Freundin als Globalisierungsgegnerin gehen, aber ich konnte es ihr ausreden, indem ich darauf hinwies, dass das Karnevalskostüm eigentlich einen Teil von sich repräsentieren sollte, den man normalerweise nicht auslebt. Sie entschied sich in letzter Minute für Hare-Krischna-Jüngerin (auch das bedarf noch der Klärung). Und gestern rief sie an, von der Toilette einer Kneipe aus, im Hintergrund hörte ich das übliche Jeckengedöns. „Ick bin jestern mit 100 Euro losjegangen, und mit 100 Euro zurückjekommen, völlig blau“, sagte sie. „So wird man hier als Frau behandelt.“ „Das beeindruckt mich nicht“, sagte ich, „solange du nicht mit null Euro losgehst und mit 100 zurückkommst.“ „Aber ick hab schon dreimal geknutscht“, sagte sie, „mit einem Bären, einem Räuber und einem, von dem ich annehme, dass er als Clark Kent verkleidet war. Der Bär hat am besten geküsst.“ „Tauscht man denn da auch Telefonnummern aus“, fragte ich. „Nicht in wachem Zustand“, sagte meine Freundin. Dann hörte ich eine Tröte, Gegröle und jemand (der Bär?) schien die Toilettentür einzutreten. Die Verbindung war beendet und ließ mich mit einer Menge Fragen zurück.

Habe ich doch etwas verpasst?, ist zum Beispiel eine davon. Kollektive Drogeneinnahme und Hampeln in komischem Zierrat wird schließlich schon von Naturvölkern betrieben, soweit ich mich erinnere, sogar aus ähnlichen Gründen – man vertreibt einerseits Geister und will andererseits herumknutschen. Ist meine Aversion (und die meiner Mitpreußen) vielleicht wider die Natur, ist die Karnevalsablehnung so etwas, wie in Einkaufszentren unter künstlicher Sonne E-gespickten Schmierkäse zu besorgen, anstatt beim Ökobauern um frische Milch und glückliche Eier anzustehen?

Während mir meine Freundin aus ihrem selbst gewählten Kölner Narrenexil eine SMS mit „alles ok die bären sind los“ sendete, dachte ich weiter darüber nach, wieso ich mit der Vorstellung, als Matrosin verkleidet mit fremden, angeschickerten Bären zu knutschen, einfach nicht warm werden kann. Angst vor Herpes ist es nicht, ich trinke aus fast jedem Glas. Bin ich zu spießig, um Fremde zu küssen? Brauche ich erst Namen, Beruf und Verlobungsring, damit ich ein wenig cosy werden kann?

Aber daran liegt es nicht. In Wirklichkeit habe ich, und haben vielleicht auch all die anderen Spaßbremsen um mich herum, mit der ganzen Geschichte das (quasi umgekehrte) Saunaproblem: Ich möchte nicht mit jemandem knutschen, der überhaupt nicht er selbst ist und überhaupt nicht wie er selbst aussieht. Natürlich ist die Chance, den wiederzusehen, mit dem man auf einer Millionenparty gekungelt hat, minimal. Aber irgendwie habe ich Muffensausen davor, dass ich aus lauter Jux und Dollerei und zu lauter Schunkelmusik einen Cowboy küsse, der in Wirklichkeit, im Nicht-Fastnacht-Leben, seine Sofas mit Schonbezügen abdeckt und einen Skispringerakzent hat. Der Einwand, auch Leute mit Skispringerakzent und Sofaschonbezügen können tolle Hechte und liebe Menschen sein, zieht nicht: Mag stimmen. Doch man muss ja nicht mit jedem lieben Menschen knutschen. Wo kämen wir denn da hin.

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