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Archiv-Artikel

jazzkolumne Der Komponist als glücklicher Mensch

In den vergangenen 30 Jahren hat Anthony Braxton ein eigenes musikalisches System entwickelt. Unbeirrt arbeitet er weiter

Als junger Mann hatte er sich derart mit dem Jazzfestival von Moers identifiziert, dass viele seiner Freunde und Kollegen ihn als afrikanischen Deutschen bezeichneten. Und im Grunde traf das sogar zu, sagt der Multiinstrumentalist und Komponist Anthony Braxton rückblickend: Bach, Beethoven und Stockhausen kommen aus seinem Lieblingsland.

Braxton bezeichnet sich als glücklich. Weil er Vorbilder hatte, von denen er viel lernen konnte: John Coltrane, Stockhausen, Jannis Xenakis und Sun Ra, Musiker und Komponisten, die ihn ermutigt haben, sein Werk zu entwickeln und hart zu arbeiten. In den vergangenen 30 Jahren hat Braxton ein eigenes musikalisches System entwickelt, als Avantgarde hat er sich dabei jedoch nicht gedacht. Vorwärts und rückwärts im selben Augenblick ist sein Motto, die eigene künstlerische Position stärken, das Streben nach Ehrlichkeit. Er begreift sich als ein professioneller Student der Musik, der sein Leben lang lernt.

Sein musikalisches System habe das Stadium einer tri-centric-Gedankeneinheit erreicht, berichtet Braxton im Gespräch. Damit meint er ein komplexes Netz aus Erfahrungen, Ideen und Transposition. Zahlenfolgen, Syntax und Vokabeln, holografische Elemente, Bewegung, Strategien und Raum sind in das musikalische Werk integriert, gleichzeitig hat er seine Vorbilder genau studiert. Stockhausen habe noch im hohen Alter sein Werk weiterentwickelt – Braxtons Helden haben sich niemals ausgeruht und sind keine Entertainer geworden. Ihre Musik korrespondiert mit den Herausforderungen einer in grundlegender Veränderung begriffenen Welt.

In den USA sei er als Künstler eigentlich gar nicht existent, resümiert Braxton. Er operiere dort unterhalb des Undergrounds, aktuelle Braxton CDs sind bei den europäischen Labels www.intaktrec.ch und www.leorecords.com erhältlich. Die Außenpolitik seines Landes nennt er eine Katastrophe, Präsident Bush sollte wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt werden. Er schätzt, dass es mindestens eine Generation braucht, bis sich das Land von dieser Regierung erholt haben wird.

Doch Braxton weiß auch, dass jede problematische Zeit künstlerisch gesehen eine große Herausforderung darstellt. Die Vietnamkriegsära war eine Zeit großer musikalischer Veränderungen, also hofft er, dass die kommende Generation neue kreative Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt und neue Wege erkundet, die zu unerwarteten Erfahrungen und neuen künstlerischen Modellen führen. Musiker und Komponisten seien glückliche Menschen, weil ihre Arbeit immer gebraucht wird, sagt Braxton. Er spricht von einer Verantwortung seriöser Künstler, gerade auch in schwierigen Zeiten ihr Werk voranzutreiben. Musik, die außerhalb des Marktes existiert, sei lebenswichtig für eine demokratische Gesellschaft. Doch Künstler, die außerhalb des Marktes operieren, haben es auch besonders schwer. Braxton sagt seinen Studenten deshalb, dass jede Zeit eine Chance bietet, auch wenn Medien und Markt die Künstler ignorieren. Diese Verantwortung begreift er als politisch.

Braxton wuchs in Chicago auf und hat dort mit der Association for the Advancement of Creative Musicians gearbeitet. Die Erfahrungen, die ihm in diesem schwarzen Künstlernetzwerkes vermittelt wurden, waren für ihn unschätzbar wichtig. Doch die AACM ist keine Schule, kein musikalischer Stil, sie fördert Vielfalt und Experimente. Die Stärke und Bedeutung der AACM sei gerade, dass sie keine ethnozentrischen Vorlieben hat. Braxton definiert seine Musik also nicht über die AACM, seine Erfahrung sei AACM, Bach, Schönberg, Stockhausen, Charlie Parker und Duke Ellington, sagt er.

Seit 1990 ist Braxton Musikprofessor an der Wesleyan University in Connecticut, vorher war er fünf Jahre am renommierten Millis College tätig, in diesem Frühjahr gibt er ein Seminar über die Musik von Sun Ra und Stockhausen. Sein Werk sei wie sein Leben, sagt Braxton: zwischen der schwarzen und weißen Community, zwischen Jazz und Klassik, zwischen linker und rechter Politik. Er glaubt an globale Realität, die Menschen zusammenbringt, nicht entzweit, sie sei transidiomatisch und könne unterschiedliche Methoden und Ästhetiken vertragen. Gleichzeitig schaue er sich nach einem Modell um, dass Hoffnung für die Zukunft impliziere.

Die afroamerikanische Community wähnt der 1945 geborene Künstler heute in einer sehr kritischen Lage. Wenn sie es nicht schaffe, sich zu öffnen, werde sie stagnieren. Als die Musiker aus New Orleans in den Achtzigern in der New Yorker Jazzszene an die Macht gekommen seien, hätten sie jede opponierende Perspektive zerstört, lamentiert Braxton. Der Gedanke, dass er und seine Musik nicht schwarz genug seien, das Konstrukt authentischer Neger gegen nichtauthentischer Neger, fuße auf Gedankenwelten aus dem 19. Jahrhundert, als man darüber nachdachte, wie sich ein echter Neger korrekt verhalten solle. Er habe mit dieser Afrozentrik nie übereingestimmt. Braxton beansprucht das Recht, alles zu erforschen und zu studieren, was er möchte. Grenzen akzeptiert er nicht.

CHRISTIAN BROECKING

www.wesleyan.edu/music/braxton/tricentric.html