jazzkolumne : Kämpfen, nicht lamentieren
Neben der Autobiografie des Bassisten Charles Mingus sind auch die Erinnerungen seiner Frau Sue Graham Mingus erschienen
Es klingt wie eine seiner letzten Kompositionen, „Me, Myself an Eye“. Er ist der Mann, der Alte, der Kleine. „Mit anderen Worten: Ich bin drei“, heißt es in seinem als Autobiografie gekennzeichneten und unlängst in deutscher Übersetzung wiederveröffentlichten Buch „Beneath the Underdog“ (Edition Nautilus), das 1971 erschien und eigentlich 1.000 Seiten stark und wie eine Bibel mit Goldrand verziert und in Leder gebunden erscheinen sollte. Doch der Verlag hatte damals andere Pläne. „Beneath the Underdog“ war kein Jazzroman, liest sich eher wie die literarische Selbsttherapie eines Künstlers, dessen Hautfarbe nicht schwarz genug ist, um ein richtiger Nigger zu sein, und nicht weiß genug, um zur Elite gehören zu können – insofern hätte auch der ursprünglich geplante Titel „Memoirs of a Half-Schitt-Colored Nigger“ besser gepasst.
Norman Mailer scheiterte mehrere Male, für das Manuskript seines Freundes Mingus einen Verlag zu finden, allein die Editionsgeschichte dieses Buches bietet Stoff für einen Sozialkrimi über die amerikanischen Verhältnisse in den Sechzigerjahren. Sätze wie „ein guter Jazzmusiker muss einfach Zuhälter werden, wenn er frei sein und seine Seele retten will“, fliegen durch dieses Buch wie wilde Noten, jede Seite eine Nutte, eine Möse, sein Schwanz. Mindestens. Nichts wird ausgelassen, und immer noch mag seine Schilderung einer Nacht mit 23 mexikanischen Huren für kulturelles Unbehagen sorgen. Wie superpotent muss ein schwarzer Mann sein, um den Weißen Angst machen zu können?
Es ist die Zeit von Bob Dylans „Don’t look back“ und Eldridge Cleavers „Seele auf Eis“, Civil Rights, Black Panther und sexueller Revolution. Da mag Mingus’ Buch als zorniger Zeitkommentar sehr willkommen gewesen sein, doch heute fällt der super Heini des schwarzen Mannes eher ins Satire-Fach, als literarischer Zündstoff ist er nur noch bedingt tauglich. Eine kleine Atempause in diesem Buch verschafft der weiße Mingus-Freund Nat Hentoff, der heute noch für die Village Voice politische Kommentare verfasst. Mingus zitiert aus einem Brief an ihn, in dem Hentoff schreibt: „Der Grund für den Hass auf andere, ist der Hass gegen sich selbst.“
Mehr über den großen schwarzen Bassisten, Komponisten und Bandleader erfährt man in dem Buch seiner Witwe Sue Graham Mingus, „Tonight at Noon. Eine Liebesgeschichte“, die jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegt (Edition Nautilus). Eigentlich als Buch über das Sterben des ALS-kranken Künstlers konzipiert – Mingus starb 56-jährig am 5. Januar 1979 – entpuppt es sich auch als intime Recherche über das Amerikabild des schwarzen Protagonisten, als Korrektiv und Pendant zu „Beneath the Underdog“. Geschildert werden die Versuche einer mexikanischen Wunderheilerin, dem schwerkranken Mingus Linderung zu verschaffen, dazwischen literarische Ausflüge an Schauplätze eines schnellen und intensiven Beziehungslebens.
Als Charles mit Sue in den mexikanischen Puff zurückkehrt, wo er einst jenen Superfick abgezogen haben will, wandelt er sich zum eifersüchtigen Spießer-Macho, der einfach nicht ertragen kann, dass seine Frau Gefallen an den Ausschweifungen findet. Man fährt nach Hause, sprachlos. Auch aus der Sicht der Journalistin und Verlegerin Sue Mingus, die heute das künstlerische Werk ihres Mannes weiterführt, war für Charles Mingus Hass und Selbsthass ein zentrales Thema. „Weißt du, die Weißen respektieren unsere Musik nicht“, lässt sie ihren Mann sagen, „weil sie wissen, woher sie kommt. Nicht von Schwarzen, sondern von dem, was Schwarzen angetan wurde, und von dem Schmerz, den sie erleiden mussten.“
Als im Mai 1959 große Mingus-Klassiker wie „Goodbye Pork Pie Hat“, dem im März jenes Jahres verstorbenen Saxofonisten Lester Young gewidmet, und „Fables Of Faubus“, ein zorniger Jazzsong gegen Rassismus, aufgenommen wurden, beklagte sich Miles Davis, dass es ihm bei seiner Platte „Kind of Blue“ nicht gelungen war, das überwältigende Gefühl wieder einzufangen, das er als Kind gehabt hatte, als er die „wahnsinnigen Gospelsongs aus der Kirche“ hörte. Charles Mingus schaffte genau das.
Joni Mitchell sang „Goodbye Pork Pie Hat“ zwanzig Jahre später nun mit eigenem Text und als Hommage an den zornigen Bassisten und Bandleader Mingus, der im Rollstuhl saß und nicht mehr spielen konnte. Er hatte sich kurz vor seinem Tod noch eine Zusammenarbeit mit ihr ausdrücklich gewünscht, und was zunächst als Geburtstagsständchen gedacht war, wurde dann eine ganze Platte – „Mingus“ – mit Wayne Shorter, Herbie Hancock und Jaco Pastorius.
Und dann noch dieses Foto. Charles Mingus, der Underdog, sitzt im Rollstuhl und weint. Neben ihm steht Jimmy Carter. Es stammt aus jener Zeit, als Mingus schon schwer krank war und Carter noch amerikanischer Präsident. Aufgenommen bei einem Jazzfest im Weißen Haus, wo auch Dizzy Gillespie mit Carter im Duett sang: „Salt Peanuts“.
Auf der vor zwei Jahren zum achtzigsten Mingus-Geburtstag veröffentlichten CD „Tonight at Noon“ der von Sue Mingus geleiteten Mingus Big Band sang Elvis Costello für sie die Ballade „Invisible Lady“. Wie die CD zeugt ihr Buch vom Kampf einer starken Frau in einer Welt, in der es an Respekt für die Musik des schwarzen Amerikas ebenso mangelt wie an Verständnis für dessen Akteure.
CHRISTIAN BROECKING