jazzkolumne : Der Produzent Rudy Van Gelder
Als die Meisterwerke des Jazz noch nicht in den Leihstudios großer Städte entstanden
Auf der anderen Seite der George Washington Bridge findet man das große, fast fensterlose Holzhaus an einer öde anmutenden Ausfahrtstraße hinter einer kleinen Einfahrt versteckt. Ein Pick-up steht vor dem Haus, und wenn der Postbote aufs Grundstück fährt, geht eine Alarmanlage los. Keine Spur von den großen Meistern, die hier seit 1959 aufgenommen wurden: Hier in Englewood Cliffs ist Rudy Van Gelders legendäres Tonstudio.
Nur wenig habe sich verändert, seitdem hier 1964 die Aufnahmen für „A Love Supreme“ stattfanden, sagt Van Gelder. Die Treppe, auf der John Coltrane einst saß und fotografiert wurde, führt zu den über dem Studio gelegenen Wohnräumen. Auch heute mit 84 Jahren ist Van Gelder noch als Tontechniker tätig, nun wurde ihm eine ungewöhnliche, meist Musikern vorbehaltene Auszeichnung zuteil: The National Endowment for the Arts (NEA) kürte ihn zum „2009 NEA Jazz Master“.
Es handelt sich dabei um die offiziell höchste Auszeichnung, die in den USA für den Jazz vergeben wird. Den mit 25.000 US-Dollar dotierten Preis haben bislang Count Basie, Sonny Rollins oder Ornette Coleman bekommen.
In den Fünfzigern und Sechzigern wurde Van Gelder besonders durch seine Aufnahmetätigkeit für den Blue-Note-Produzenten Alfred Lion bekannt. Horace Silvers „Song For My Father“, Herbie Hancocks „Cantaloupe Island“ und Art Blakeys „Blues March“ sind nur einige der von Van Gelder aufgenommen Klassiker aus dem Blue-Note-Katalog. Für die Beliebtheit Van Gelders in Musikerkreisen spricht, dass ihm auch immer wieder Kompositionen gewidmet wurden. Der Pianist Thelonious Monk spielte schon 1953 „Hackensack“, als das Studio noch im Wohnzimmer von Van Gelders Elternhaus in Hackensack, New Jersey, gelegen war.
Monk, Rollins, Coltrane und Miles Davis kamen nach Hackensack, um hier aufzunehmen. Dort hat er Klassiker für das Prestige-Label aufgenommen, von denen viele in jüngster Zeit in der Rudy-Van-Gelder-Remasters-Serie wiederveröffentlicht wurden. „Steamin’ “ von Miles Davis war eine seiner Lieblingsplatten in jenen Tagen.
Die Produzenten seien für das Programm verantwortlich, sagt Van Gelder; bei ihm drehe sich alles darum, den Sound der Band am besten aufzunehmen. Er kümmert sich darum, dass die Mikrofone richtig stehen und die Pegel stimmen. Zeit, sich Gedanken über die Musik zu machen, sei ihm früher kaum geblieben. Erst in den letzten Jahren, als es zu den vielen Wiederveröffentlichungen auf CD kam und man ihn dafür wieder engagierte, sei er dazu gekommen. „Ich weiß es schließlich ganz genau, denn ich habe immer gefragt, wie die Musiker auf Platten klingen möchten“, sagt Van Gelder. Kisten mit den Originalbändern von einst stapeln sich heute in seinem Studio und warten auf Digitalisierung.
Die Produzenten brauchten damals nur einen Lautsprecher, um die Musik ihrer nächsten Platte zu hören, erzählt Van Gelder.
Alle Entscheidungen über die Balance und über das Klangergebnis wurden auf der Basis einer Monoaufnahme getroffen. Das sei heute kaum mehr vorstellbar, besonders da viele dieser Klassiker zwischenzeitlich als gefälschte Stereoaufnahmen auf CD erschienen sind. Noch bis weit in die frühen Stereotage hätten die Jazzproduzenten mono gehört, selbst noch in Englewood Cliffs, als Van Gelder schon Zweispuraufnahmen machte.
Als keiner mehr Mono hören wollte, nahm man die Zweispuraufnahmen und veröffentlichte sie als Stereo. Die Originalbänder, die er in jener Übergangsphase von Mono zu Stereo aufnahm, bestanden aus Zweispuraufnahmen verschiedener voneinander getrennter Instrumente, die er dann zu einer Monoaufnahme mischte. Als das eigentlich Spannende an dieser historischen Wende in der Aufnahmetechnik bezeichnet Van Gelder rückblickend, dass sich die Produzenten und Musiker weiterhin anhand der Monoaufnahmen für das fertige Produkt entschieden.
Es gab kein Nachmischen, keine Korrekturen. Der authentische Jazzplattensound bis in die Sechzigerjahre hinein war mono, die Produzenten, die Musiker und er hörten, machten und dachten Monoaufnahmen. Um ein Meisterwerk zu schaffen, brauche man große Musiker und originelle Produzenten, die ihr Handwerk verstehen, sagt Van Gelder.
Er selbst habe nie für andere Studios gearbeitet, hatte immer die volle Kontrolle über sein Equipment und die Räumlichkeiten. Er brachte sich alles selbst bei, und im Studio habe er alles so eingerichtet, dass die Musiker sich während der Aufnahmen wohlfühlen und so gut wie möglich klingen können. Van Gelder bezweifelt, dass Meisterwerke in den Leihstudios entstehen, die man in den großen Städten mieten kann. Die Umgebung, die Atmosphäre, das Raumgefühl würden für die Musiker eine entscheidende Rolle für das Gelingen spielen.
Die Multi-Track-Aufnahme, bei der jeder Musiker seine eigene Spur hat und separat aufgenommen wird, erlaubt es heute, Aufnahmen zu mischen, die es so real nie gegeben hat. Das habe die Richtung der improvisierten Musik grundlegend verändert, sagt Van Gelder.
Heute sei es für die jungen Musiker selbstverständlich, dass sie ihre Soli am Mischpult schneiden und neu zusammensetzen, manchmal brauchen sie Stunden für die Nachbearbeitung eines kurzen Solos, das sich danach völlig anders anhört als während der Aufnahme. Das habe im eigentlichen Jazz-Sinn gar nichts Improvisiertes und Spontanes mehr.
CHRISTIAN BRÖCKING