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Archiv-Artikel

in fußballland Das Trauma von Bern

CHRISTOPH BIERMANN über die Auswirkungen des Weltmeistertitels 1954 auf den deutschen Fußball

Christoph Biermann, 42, liebt Fußball und schreibt darüber.

Reiner Calmund hat sich am Transistorradio gestört, das der junge Hauptdarsteller in Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“ von seinem älteren Bruder zugesteckt bekommt. Als eine Art Kassiber in den Stubenarrest, den der Kriegsgefangenschaftrückkehrvater ausgesprochen hatte. So ein Radio gab es damals nicht, behauptet der Manager von Bayer Leverkusen. Dafür fand er die Straßen seiner Heimat wieder, obwohl Calmund nicht aus dem Ruhrgebiet kommt, sondern aus Brühl. Da war Braunkohletagebau und gab es Kolonien, wo er aufwuchs. Bewegt hat ihn das, und bewegt hat ihn auch das Tor von Helmut Rahn, das Tor, Tor, Tor der deutschen Fußballgeschichte, endlich aus Sicht des Schützen zu sehen.

Mich hat das nicht bewegt, leider. Aber schon vor dem Film war ich seinem Overkill erlegen und konnte im Kino nur eine Leistungsschau des Ausstattungswesens und das Play-Station-Publikum im virtuellen Wankdorf-Stadion sehen, das billig animiert vor sich hin jubelte. Doch kein Wort mehr zu diesem Film und keines mehr zur hundertfach geschriebenen Behauptung, dass die Geschichte der Bundesrepublik angefangen hat, als das Spiel gegen die Ungarn mit 3:2 abgepfiffen war. Es mag so sein oder auch nicht. Mir ist das im Moment egal oder nur insofern wichtig, als das real gespielte Fußballspiel unter solchen Interpretationen begraben ist.

Wie es wirklich war, wissen wir nicht, weil die Filmrollen verschwunden sind. Möglicherweise haben wir im nächsten Jahr eine klarere Idee, wenn lauter Stückchen aus aller Welt zusammengetragen das Mosaik vollständiger machen. Hilfreich könnte das werden, denn 54 ist die Urszene des deutschen Fußballs – als er aus dem Schlamm kroch, die Kiemen abwarf und zu laufen begann. Jede große Fußballnation hat ihre Urszene, auf die man sich zurückbeziehen kann und die ein Orientierungspunkt bleiben wird. Bei den Brasilianern war es zweifellos die WM 1958, als Pelé begann, und schöner Fußball, der siegreich war. Womit auch schon die Extreme benannt wäre: 1958 vs. 1954, Schönheit vs. ja, was eigentlich?

Das erzählte Wunder von Bern hat vor allem mit Schlauheit, mit Regen und mit unbezähmbarem Willen zu tun. Wie sonst hätte Herbergers Team eine ungarische Mannschaft schlagen können, die zuvor in 32 Spielen unbesiegt geblieben war und das deutsche Team während des Turniers in der Schweiz mit 8:3 geschlagen hatte? Diese Niederlage wurde hinterher als Schachzug von Herberger interpretiert und war es vielleicht auch. Der Regen war „dem Fritz sein Wetter“, aber neben diesem Aberglauben sind schwere Böden für schlechtere Teams stets ein Vorteil, und Adi Dasslers neue Technologie der Schraubstollen mochte ebenfalls geholfen haben.

Doch all das ist schon zu kompliziert, wie auch der taktische Kniff, dass sich Mittelläufer Liebrich nicht von Hidegkuti ins Mittelfeld locken ließ. Oder dass Herberger auf Angriffe über die linke Seite setzte – von wo die ersten beiden Tore fielen. Als wahre Essenz blieb, dass eine eigentlich schlechter besetzte Mannschaft auch dann gewinnen kann, wenn sie sich nur genug reinhaut, und dass deutsche Fußballteams erst dann besiegt sind, wenn abgepfiffen ist (oder eben nicht). Diese Idee lebte über Jahrzehnte weiter und wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung (etwa 1974, als die eigentlich besseren Holländer besiegt wurden). Es galt das Primat von Kampf, Einstellung und Haltung über Schönheit und Inspiration. Der Spaß lag allein im Erfolg (außer bei der EM 1972).

Inzwischen ist der Kampfvorteil längst dahin, weil sich nicht einmal mehr Brasilianer vor Regen erschrecken. Bern ist zum Trauma geworden, denn noch ist nicht in allen Köpfen angekommen, dass Fußball auch gespielt werden muss. Nur, vielleicht wurde das in Wirklichkeit getan, vielleicht war mehr Kunst im Spiel der Helden von Bern als behauptet wird, und vielleicht erfahren wir es noch. Das wäre gut, schließlich ist Geschichte dazu da, ständig neu geschrieben zu werden. Und eine andere deutsche Fußballgeschichte ist leider weiterhin dringend notwendig.