piwik no script img

Archiv-Artikel

in fußballland Die reine Blasphemie

CHRISTOPH BIERMANN traut sich nicht so recht, die Wahrheit zu sagen über das, was er im Sommer bei der WM in Deutschland erlebt hat

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob schon genug Zeit verstrichen ist, um endlich die Wahrheit zu sagen. Denn als ich es vor einigen Wochen schon einmal versucht habe, waren selbst meiner Freunde Reaktionen bestenfalls ablehnend, teilweise auch grimmig, sodass ich mir Zurückhaltung auferlegte und mich auf Andeutungen beschränkte. Diese Situation hat mit einem Häufchen grüner Eintrittskarten aus Pappe zu tun, die groß wie Flugtickets sind und in diesem Sommer zum Besuch der Spiele der Weltmeisterschaft berechtigten. 19 davon liegen auf meinem Schreibtisch.

Aber darf man nicht mehr die Wahrheit sagen, wenn man so viele davon besitzt? Klar, diese Tickets wurden verzweifelt gesucht und überteuert bezahlt, weil es vergleichsweise wenige davon gab. Angesichts eines irrwitzigen weltweiten Lossystems erscheint es erst recht unfassbar, dass eine einzelne Person, die nicht Franz Beckenbauer heißt, Eintrittskarten für 19 Spiele hatte, was immerhin annähernd ein Drittel aller Partien war. Insofern sorgte der kleine grüne Stapel im Sommer für ungefähr so viel Sozialprestige wie sonst nur ein Porsche in der Garage oder, wenn man es differenzierter mag, ein echter Gursky über dem Sofa.

Auch wenn es um derlei im Leben natürlich nicht wirklich geht, gehört es sich dennoch nicht, den Wert seiner Besitzstände herunterzuspielen. Schließlich gibt es auch eine Arroganz der Bescheidenheit. Die Bemerkung, dass ein Porsche ganz schön eng und nicht so toll gefedert ist, sollte man sich genauso verkneifen wie den Hinweis darauf, dass man über dem Sofa schließlich nicht das Schlüsselwerk des großen Fotografen hängen hat. Doch wenn ich mir die grünen Pappkarten noch einmal genauer anschaue, kann ich trotz kollektiver Glückseligkeiten auf Deutschlands Straßen zu keinem anderen als dem blasphemischen Schluss kommen: Die WM war nicht sonderlich toll. Und nicht nur, weil ich gerade die Eintrittskarte zum schlechtesten Turnierspiel in der Hand halte. Schweiz gegen die Ukraine fühlte sich 90 Minuten plus Verlängerung plus Elfmeterschießen wie eine Partie zwischen Wolfsburg und Bielefeld im Spätherbst an.

Auch die meisten anderen Partien waren von enttäuschender Mittelmäßigkeit. Ein englischer Kollege schickte mir nach dem 2:0-Sieg von England über Trinidad eines SMS: „Hell, Bochum would beat that lot.“ Als ich höflich zurückschrieb, dass der VfL Bochum aber wahrscheinlich nur 1:0 gewonnen hätte, antwortete er glucksend, dass er England meinen würde. Kaum einmal ging mir auf der Tribüne das Herz auf, weil erinnerungswürdig gekickt wurde, zu dick und faul waren die Brasilianer und von nur kurzer Halbwertzeit die Argentinier. Afrika fiel weitgehend durch, Asien erst recht und die beiden Finalisten Italien und Frankreich haderten lange mit sich, bis sie plötzlich im Finale standen. Eigentlich machte nur die Mannschaft von Jürgen Klinsmann richtig Spaß, und die sah ich nur zweimal live, beim zweiten Mal verlor sie auch schon.

Außerdem habe ich die Eintrittskarten nicht erlost und dann gekauft, sondern sie als akkreditierter Journalist kostenlos zugeteilt bekommen habe. Wobei ich schon merke, während ich das aufschreibe, dass es nur noch ungeheuerlicher klingt: 19 WM-Tickets, und alle geschenkt, Hammer! Man sieht, wie schwer es mit der Wahrheit ist. Ob ich denn die tolle Stimmung bei der WM ignoriert habe, werden jetzt einige streng fragen. Die kommt auf Pressetribünen aber leider nur sehr vermittelt an. Trotz gelebter Völkerfreundschaft mit Kollegen aus aller Welt, reicht es zur gemeinsamen La Ola nicht. Auch sonst habe ich mich nicht durch die feierseligen Innenstädte bewegen können oder bin mit enthusiasmierten Fans im Bus gefahren, sondern war in einem Paralleluniversum der Durchfahrtscheine und Pressezentren unterwegs. Doch jetzt spüre ich schon wieder, dass auch dieser Hinweis missverständlich ist, und werde fortan mit meiner Wahrheit alleine bleiben und schweigen.