heute in bremerhaven : „Arme müssen in die Städte“
Wie die soziale Kluft mittels Stadtplanung überbrückt werden kann, diskutieren zwei Experten
taz: Herr Prigge, Sie suchen nach der idealen „Wohnung für das Existenzminimum“…
Walter Prigge, Stadtsoziologe: So lautete der Titel einer Architekturausstellung im Jahr 1929, die eine breite Bewegung in der Moderne auslöste: Den Massenwohnungsbau, also die industrielle Produktion von günstigem Wohnraum in großen Einheiten.
Heute stehen viele dieser Hochhäuser leer, in Bremen und Bremerhaven werden sie zum Teil abgerissen.
Das ist das, was ich in meinem Vortrag „Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung“ nenne. Was es zu wenig gibt, ist günstiger Wohnraum in den Kernstädten. Wir haben derzeit die Situation, dass die Mittelschicht zurück in die Städte zieht und diejenigen verdrängt, die sie dort nicht so gerne sieht. Also Arbeitslose, unvermögende Großfamilien und Rentner und andere Arme. Die müssten in den Städten 40 bis 60 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben, während andere zu zweit auf 120 Quadratmeter leben.
Warum soll Platz für sie in der Innenstadt sein?
Damit sie teilnehmen können am sozialen Leben, an Kultur, an Bildung, Gesundheitseinrichtungen besuchen können! Gerade alte Leute müssen in die Städte zurück, weil sie nicht so mobil sind und nicht vereinsamen sollen. Die nächste Rentnergeneration wird längst nicht mehr die Ressourcen haben wie die jetzige.
Auf dem Land haben Arme keine Chance?
Nein, das Land wird ausbluten. Schon jetzt zeigt sich, dass wir uns die erforderliche Infrastruktur in der Fläche nicht mehr leisten können. Es gibt keine Ärzte, keine Schulen und keine Läden mehr – außer der Tankstelle. In Zukunft werden nur noch Leute „draußen“ wohnen, die es sich leisten können, autark zu leben.
Wenn alle Benachteiligten in die Innenstädte drängen, wird dort die Reibungsfläche größer.
Das stimmt, wir wissen nicht, wie wir mit diesem Problem umgehen. Die soziale Kluft wird allmählich auch in Europa sichtbar, zum Beispiel in Mailand. Die Entwicklung steuert auf südamerikanische Verhältnisse zu, wo sich Reiche mit Zäunen abschotten und direkt dahinter der Slum beginnt. Interview: Eiken Bruhn
Vortrag „Lässt sich Stadt noch planen?“: Designlabor Bremerhaven, An der Geeste 25, 18 Uhr